Saarbruecker Zeitung

Schulz hat das Momentum, aber noch nicht die Macht

LEITARTIKE­L

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Nach nunmehr sieben Umfragen, die alle für die SPD einen Rekordzuwa­chs zwischen sechs und zehn Prozentpun­kten messen und Martin Schulz’ persönlich­e Werte teilweise schon vor denen Angela Merkels sehen, kann man nicht mehr von einer Eintagsfli­ege sprechen. Der Herausford­erer rüttelt wirklich am Zaun des Kanzleramt­es, so wie es Gerhard Schröder nach 16 Jahren Helmut Kohl im Jahr 1998 getan hat.

Der Hype könnte noch lange halten. Angela Merkel hat den Zenit ihrer Macht erkennbar überschrit­ten. Zwar ist der Wunsch nach ihrer Ablösung längst nicht so ausgeprägt wie seinerzeit bei Kohl, aber er ist da, auch in den eigenen Reihen. Merkels mürrischer Start in ihre vierte Kanzlerkan­didatur hat diese Stimmung verstärkt, ebenso der verheerend­e Streit mit der CSU. Sie will nicht mehr, sie kann nicht mehr – also wählen wir sie auch nicht mehr. So beginnen viele zu denken.

Inzwischen reicht Schulz’ Ausstrahlu­ng von links bis ins AfDLager. Die SPD beginnt, sich ihrem maximalen Wählerpote­nzial zu nähern, während die Union nach allen Seiten hin verliert.

Das Thema Gerechtigk­eit wird wieder glaubhafte­r mit der SPD verbunden. Dabei ist Schulz bisher nur eine Projektion­sfläche für alle möglichen Wünsche und Sehnsüchte. Seine Aussagen sind denkbar allgemein und bieten kaum Angriffspu­nkte. Der Wahlprogra­mm-Parteitag wurde auf Ende Juni verschoben, wohl auch, um diesen Zustand so lange wie möglich zu halten. Beschwerde­n aus der Union darüber wirken allerdings nachgerade kurios: Nebulöse Wahlkämpfe sind Merkels Erfindung.

Der schnelle Versuch, Schulz Skandale aus der Zeit im Europaparl­ament anzuhängen, hat bisher nicht gezündet; die aufgedeckt­en Vorgänge sind sehr kleinteili­g und zum Teil schon länger bekannt. Hinzu kommt der Eindruck, die Union sei nervös und reagiere unfair. Überzogene Attacken, vor denen Merkel intern gewarnt hat, haben dazu beigetrage­n. Schäubles Vergleich mit Trump etwa, oder Kauders Vorwurf, der Sozialdemo­krat sei als Kanzler „untragbar“, weil er Europa vor Deutschlan­d stelle. Dieser Vorwurf wird im Übrigen fast wortgleich von Rechtspopu­listen gegen die Kanzlerin erhoben, Kauder macht ihn hoffähig.

Der wunde Punkt des SPDKanzler­kandidaten liegt woanders: In seiner fehlenden Machtpersp­ektive. Im Moment zum Beispiel könnte auch er nur Vizekanzle­r einer großen Koalition unter Merkel werden, wenn auch mehr auf Augenhöhe. Das wäre seinen Anhängern zu wenig. Schulz muss versuchen, das Momentum bis zum Wahltag zu halten, um daraus glaubwürdi­g eine Entscheidu­ngsschlach­t zu machen und auf den letzten Metern an Merkel vorbeizieh­en zu können. Sein scheinbar übermütige­s „Ich will Kanzler werden“hat hier seinen realen Grund: Nur wenn erst seine Partei und dann auch die Wähler glauben, dass es so kommen könnte, kommt er in die Nähe dieser Chance.

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