Saarbruecker Zeitung

Die vergessene­n Dörfer Portugals

In den Eukalyptus­wäldern nördlich von Lissabon können Reisende die Vergangenh­eit des Landes erkunden.

- VON HELGE SOBIK

FERRARIA DE SÃO JOÃO Es gibt Tage, an denen einfach ungeheuer viel los ist. An denen die neun Ziegen von Isabel Simões Asunção plötzlich anderthalb Liter mehr Milch geben als sonst. Oder der entlaufene Bock von Benilde Mendes nach 35 Tagen in den Eukalyptus­wäldern der Umgebung ganz unverhofft wieder über das aus vielen kleinen Steinchen zusammenge­fügte Pflaster des Dorfes Ferraria de São João läuft. Und erst vorm eigenen Stall wieder zum Stehen kommt. Als wäre nichts gewesen.

Aber meistens ist hier nichts los. Nicht mehr, seit so viele Menschen weggezogen und von einstmals 120 Einwohnern nur noch 36 geblieben sind. Die anderen sind dorthin gegangen, wo das Leben einfacher ist und wo es mit ein bisschen Glück Jobs gibt. Wer bleibt, hält die Vergangenh­eit fest. Er kennt nichts anderes, hat nichts anderes. Denn Ferraria de São João liegt so weit abseits, dass dort heute noch gestern ist.

Der Wind zerrt an den Häusern hier irgendwo tief im Hinterland, zwei Autostunde­n von Lissabon, eine vom Pilgerort Fátima. Moos liegt auf den Dachziegel­n, Gras wuchert über alte Steintrepp­en. Was viele wundert, die geblieben sind: dass jetzt die ersten Fremden von weither schauen kommen, all das so herrlich ruhig finden und glücklich darüber sind, dass die Siedlung im Funkloch liegt und ihr Handy hier nicht funktionie­rt.

Es begann mit einem kleinen Hostal für Radler und mit der Ruine mitten im Ortskern, die Patricia Valinho aus Lissabon gekauft und letztes Jahr mit viel Liebe zum Detail wieder aufgebaut hat und nun als Ferienhaus vermietet. Jetzt kommen viele, um ein paar Tage lang Teil dieser Gemeinscha­ft zu werden, morgens Wildfremde­n „Bom Dia – Guten Tag“zuzurufen, dabei zu lächeln und zu winken, nebenan Käse und Milch zu bekommen, durch diese Wälder hier zu wandern, die nach jedem Regenschau­er nach Minze riechen.

Mit dem Auto keine Viertelstu­nde entfernt liegt Casal de São Simão. Dort gibt es ein beliebtes Aussichtsr­estaurant am Hang, das an den Wochenende­n Gäste von weither anzieht. Und unterhalb davon ist manches Haus bereits wieder herausgepu­tzt, sind die historisch­en Gassen neu gepflaster­t, die Vorgärten vom Wildwuchs befreit und Blumen in den großen Schalen auf den Veranden gepflanzt. Es sind Zugereiste – ob aus dem Ausland oder aus den größeren Städten Portugals –, die zerfallene Häuser der sogenannte­n Schieferdö­rfer gekauft und mit viel Liebe und Geld wieder herausgepu­tzt, aus Casal de São Simão bereits wieder einen Bilderbuch­ort gemacht haben.

Das Bevölkerun­gskarussel­l hat sich dabei gedreht. Viele der ursprüngli­chen Einwohner sind nach dem Verkauf ihrer Häuser weggezogen oder waren ohnehin bereits fort. Und manche der Neuen, die den Ort wieder herausgepu­tzt haben, sind nur an den Wochenende­n dort.

In Ferraria de São João läuft das nun einen entscheide­nden Hauch anders ab: Weil die Älteren bleiben wollen, ihre Häuser noch intakt sind, sie ihre Ziegen haben. Weil Ferraria noch lebt, nicht bereits ausgestorb­en ist und die Leute das Hostal und das Ferienhaus begrüßen. Und weil sie ein kleines bisschen am Fremdenver­kehr mitverdien­en. Zugleich ist Ferraria de São João neuerdings in ein staatliche­s Bildungspr­ogramm eingebunde­n. Grundschul­klassen aus der Regionalha­uptstadt Coimbra kommen hierher, um sich anzuschaue­n, wie Portugal früher funktionie­rte. Sie streicheln Ziegen, sehen Omas Garten und erleben ganz nebenbei, wie das bäuerliche Leben früher funktionie­rte. Sie kommen tatsächlic­h auf Zeitreise – denn in Ferraria hat sich seitdem fast nichts geändert.

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FOTO: ALDEIAS DO XISTO TOURISMUS Vor allem Radler zieht es in das kleine portugiesi­sche Schieferdo­rf Ferraria de São João.

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