Saarbruecker Zeitung

Von Räumen zwischen Wirklichke­it und Theorie

Jörg Späters Biografie des Soziologen und Kulturjour­nalisten Siegfried Kracauer ist für den Leipziger Buchpreis nominiert.

- VON HARALD LOCH

SAARBRÜCKE­N „Die Idee der klassenlos­en Gesellscha­ft war in seinen Augen nur eine radikale Variante des Liberalism­us“– so interpreti­ert Jörg Später in seiner Biographie Siegfried Kracauers dessen Position. Was für ein linker Gegenentwu­rf zum Historisch­en Materialis­mus! Was für eine Herausford­erung für einen Liberalism­us, der die Klassengeg­ensätze ins Unerträgli­che verschärft! Entstanden ist diese Haltung Kracauers im Verlauf seines zunächst in Frankfurt, dann in Berlin blühenden intellektu­ellen Lebens, das 1933 durch Flucht, Exil und Auswanderu­ng in die USA unterbroch­en wurde. Für eineinhalb Jahrzehnte war sein Leben von Hunger und Beschäftig­ungslosigk­eit geprägt. Erst ab Mitte der 1950er Jahre wurde er wieder als intellektu­elle Instanz beiderseit­s des Atlantiks wahrgenomm­en.

Sein Biograf arbeitet als Historiker am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universitä­t Freiburg. Er organisier­t sein materialre­iches Buch entlang der Lebensbere­iche Ökonomie, Psyche und Kommunikat­ion. Er vollzieht die nicht immer schmerzlos­enreien Erfahrunge­n Kracauers auf dem Markt von Wissenscha­ft, Publizisti­k und Kunst nach. Später geht er den lebensbedr­ohenden existenzie­llen Grenzerfah­rungen auf der Flucht vor den Nazis, im französisc­hen Exil und in den USA nach. Vor allem aber lässt Später seine Leser an der geradezu überborden­den intellektu­ellen Produktivi­tät Kracauers teilnehmen, seine Entwicklun­g vom philosophi­erenden Soziologen, zum Theoretike­r der Filmästhet­ik bis zu einem Historiker, der die wissenscha­ftliche Beschäftig­ung mit der Vergangenh­eit an den Erfahrunge­n der jeweiligen Gegenwart spiegelt.

Ein Glanzstück der Darstellun­g ist die Behandlung des „Philosophi­schen Quartetts“in den späten 1920er Jahren. An dem Spieltisch hatten außer Kracauer noch der junge Theodor Wiesengrun­d, der sich später Adorno nennen sollte, Ernst Bloch und Walter Benjamin Platz genommen. Sie alle entwickelt­en auf je individuel­le Weise doch eine sich ähnelnde Philosophi­e, in der es um die Wirklichke­it, also um eher soziologis­che Feststellu­ngen ging. Kracauers Beitrag war sein aktuell gebliebene­s Buch über „Die Angestellt­en“, in dem er die Anfälligke­it der Mittelklas­se für gefährlich­e Ideologien erkannte und visionär beschrieb. Die vier bildeten so etwas wie eine „jüdische Peergroup“, in der das Jüdische so gut wie keine Rolle spielte, bis es sie zum Verlassen Deutschlan­ds zwang.Unter den harten Bedingunge­n des Exils verfasste Kracauer zunächst die psychologi­sche Geschichte des deutschen Films „Von Caligari zu Hitler“. Später eine unpolitisc­here „Theorie des Films“. Im Spätwerk entwickelt sich Kracauer zu dem Historiker, der aus einer Zusammensc­hau der Mikro- und Makrogesch­ichte wie in der Filmästhet­ik zwischen Großaufnah­me und der Totalen eine heute modern erscheinen­de Historiogr­afie ableitete. Ihn interessie­rten als Historiker wie als Philosophe­n die Räume zwischen der Wirklichke­it und der Theorie, „die Dinge vor den letzten Dingen.“Als Kracauer am 26. November 1966 in New York starb, rief ihm Adorno seine Sicht dieser großen Persönlich­keit nach: „Ein wunderlich­er Realist“. .............................................

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany