„Lahme Enten“sollen EU-Fliehkräften trotzen
ANALYSE EU-Kommissionschef Juncker macht nur noch zwei Jahre, Ratspräsident Tusk ist auf Abruf im Amt: Europa gerät zur Unzeit in eine personelle Krise.
BRÜSSEL. Es rumort an der Spitze der EU. Völlig unerwartet und – schlimmer noch – ohne Grund sorgte zunächst EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker für Kopfschütteln und Irritationen in den Hauptstädten der 28 Mitgliedstaaten. Als der 62-jährige frühere Luxemburger Premierminister und langjährige Eurogruppen-Chef vor wenigen Tagen ankündigte, er werde 2019 nicht noch einmal für den Chefsessel der wichtigsten EU-Behörde antreten, war das Erstaunen groß. Juncker hatte eine Diskussion losgetreten, die zu diesem Zeitpunkt völlig unnötig schien.
Gestern musste er sich sogar scharf gegen aufkommende Gerüchte zur Wehr setzen, er werde seine Amtszeit, die bis zum November 2019 läuft, früher durch Rücktritt beenden. Einige der wenigen noch Verbündeten des Luxemburgers bemühten sich eilfertig, den Schritt als Versuch für mehr „Beinfreiheit“zu interpretieren: Juncker wolle und könne nun freier regieren, weil er nicht mehr auf eine Wiederwahl setzen müsse, hieß es aus der Kommission. Der weitaus größere Teil der EU-Vertreter aber fürchtet, dass der Kommissionspräsident für den Rest seiner Amtsperiode als „lahme Ente“ohne Schwung und Elan seinen Job lediglich verwaltet. Den Beleg für diese These lieferte Juncker selbst gleich mit, als er in einem Interview über ein Auseinanderfallen der Union infolge des Brexit spekulierte. Eigentlich dürfte die wichtigste Führungsfigur der EU kein Zweifler sein.
Gleichzeitig gibt es nicht mehr nur hinter den Kulissen Auseinandersetzungen um die politische Zukunft von EU-Ratspräsident Donald Tusk. Die erste Amtszeit des 59-jährigen Polen an der Spitze der Staats- und Regierungschefs endet im Mai und kann dann noch einmal verlängert werden. Doch Tusk, der in seiner Heimat der liberal-konservativen Bürgerplattform angehört, ist in Ungnade beim Vorsitzenden der regierenden PiS-Partei, Jaroslaw Kaczynski, gefallen. Rein formell könnten die Staats- und Regierungschefs zwar mit Mehrheit das polnische Veto übergehen. Politisch klug dürfte ein solcher Schritt nicht sein. Sollte Tusk tatsächlich ersetzt werden müssen, wurden François Hollande, als französischer Präsident derzeit selbst eine „lahme Ente“, bereits Ambitionen auf den Vorsitz der EU-Gipfeltreffen nachgesagt. Der Franzose hätte gegenüber Tusk vor allem einen Vorteil: Er ist Sozialist. Derzeit werden alle drei EU-Institutionen (Kommission, Parlament und Rat) von Konservativen geleitet, lediglich die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem gehören sozialdemokratischen Parteien an. Wobei Letzterer möglicherweise gehen muss, wenn seine Sozialdemokarten in den Niederlanden die Wahl verlieren.
Der Umbruch auf Europas TopPositionen kommt zur Unzeit, weil wegen der Brexit-Verhandlungen, die bald beginnen dürften, und angesichts der Fliehkräfte durch Populisten und Kritiker, eigentlich besondere Beständigkeit nötig wäre. Die Union rutscht personell in eine Identitätskrise ab. An einem Europa der zwei Geschwindigkeiten wird auf Dauer kein Weg mehr vorbeiführen: Wer eine schnellere und tiefere Einigung will, kann dies mit Gleichgesinnten tun. Wer der EU-Familie nur in Teilbereichen angehören will, muss dafür die Möglichkeit erhalten. Aber das funktioniert nur, wenn die Institutionen der Union alles zusammenhalten und auch immer wieder alle zusammenholen. Starke, charismatische Führungspersönlichkeiten sind dafür unverzichtbar – aber derzeit Mangelware.
Starke, charismatische Führungspersönlichkeiten sind in der EU derzeit
Mangelware