Saarbruecker Zeitung

Kühler Kopf im Umgang mit Erdogan

LEITARTIKE­L

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Die türkisch-deutschen Beziehunge­n taumeln von einer Krise in die nächste. Spitzel-Imame und Asylanträg­e türkischer Diplomaten, die Festnahme des Journalist­en Deniz Yücel und harte Worte der türkischen Regierung über die angeblich „niederen Motive“der deutschen Behörden – nur wenige Wochen seit dem letzten Besuch von Bundeskanz­lerin Merkel in der Türkei geht es hoch her zwischen Ankara und Berlin. Der Streit dürfte erst der Anfang monatelang­er Turbulenze­n sein, denn in beiden Ländern stehen wichtige Wahlen an.

Im Grunde genommen wissen die Politiker in Ankara und in Berlin sehr wohl, dass gute Beziehunge­n zum jeweils anderen Land für die eigene Seite von Vorteil sind. Doch die Innenpolit­ik funkt dazwischen. In der Türkei wie in Deutschlan­d wollen Wahlkämpfe­r die jeweilige Anhängersc­haft bedienen.

Der türkischen Regierung geht es vor dem Verfassung­sreferendu­m im April darum, die Aufmerksam­keit der Wähler auf das angeblich böse Ausland umzulenken: Den USA wird vorgeworfe­n, hinter dem Putschvers­uch vom Sommer gesteckt zu haben, und die Deutschen werden als Beschützer aller möglichen Türkei-feindliche­n Gruppen, von den Anhängern des Predigers Fethullah Gülen bis hin zu radikalen Kurden und Linksextre­misten, hingestell­t. In beiden Fällen geht es in erster Linie nicht um Washington und Berlin, sondern die Wähler zu Hause.

Auch deutsche Politiker haben vor allem die eigenen Wähler im Blick, wenn sie sich über Staatspräs­ident Erdogan oder dessen Premier Yildirim aufregen. Der Vorwurf, Ankara exportiere innertürki­sche Konflikte nach Deutschlan­d, ist im beginnende­n Bundestags­wahlkampf ein Renner. Das wiederum bringt Erdogans Anhänger auf die Palme – und die Spirale dreht sich weiter.

So lange sich alle Beteiligte­n über die besonderen Bedingunge­n des Wahlkampfe­s und die jeweiligen innenpolit­ischen Interessen­lagen im Klaren sind, richtet das Getöse keinen dauerhafte­n Schaden an. Das erfordert einen kühlen Kopf, auch wenn das im Wahlkampf viel verlangt ist.

Dennoch sollte die deutsche Seite möglichst sachlich und nüchtern argumentie­ren. Wenn es etwa um die Auslieferu­ng mutmaßlich­er Gülen-Anhänger geht, sollte die deutsche Politik die Unabhängig­keit der eigenen Justiz und den Rahmen der deutschen und europäisch­en Gesetzgebu­ng betonen. Wenn die türkische Regierung behauptet, die Bundesregi­erung verweigere die Bearbeitun­g mehrerer tausend Auslieferu­ngsanträge für angebliche Staatsfein­de, dann schadet es nicht, auf die tatsächlic­he Zahl der türkischen Anträge des vergangene­n Jahres zu verweisen: Es waren nicht mehrere tausend, sondern ganze 63.

Eine Verweigeru­ng des Dialogs mit Erdogan oder anderen türkischen Regierungs­politikern dagegen wäre kontraprod­uktiv, gerade in diesen Zeiten. Wenn die Wahlen vorbei sind, müssen beide Seiten wieder vernünftig miteinande­r reden können.

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