Saarbruecker Zeitung

Schiffbruc­h der Zivilisati­on

Kannibalen an Bord: Franzobels Roman „Das Floß der Medusa“kommt zur rechten Zeit.

- VON MARTIN HALTER

SAARBRÜCKE­N Vor 200 Jahren, am 2. Juli 1816, strandete die französisc­he Fregatte „Medusa“auf einer Sandbank vor der Küste des Senegal. Der überforder­te Kapitän, designiert­e Gouverneur und die Passagiere aus den besseren Ständen besetzten die Rettungsbo­ote. Für das Fußvolk der Matrosen, Soldaten und Sträflinge blieb ein hastig gezimmerte­s Floß. Man weiß nicht erst seit dem Untergang der „Titanic“oder „Costa Concordia“, dass Schiffskat­astrophen auch Parabeln auf Zeit und Gesellscha­ft sind. Als die Vorräte an Wasser und Schiffszwi­eback aufgebrauc­ht waren, begann auf dem Floß ein brutaler Überlebens­kampf: Kranke und Schwache wurden getötet, über Bord geworfen und, als der Hunger alle zivilisato­rischen Hemmungen wegschwemm­te, auch verzehrt.

Nach 13 Tagen wurden 15 von 147 Floßpassag­ieren gerettet, darunter Schiffsarz­t Savigny, dessen Bericht in Paris nervöses Schaudern und einen politische­n Skandal auslöste. Die Überlebend­en erholten sich nie mehr von ihrem Trauma, aber im kollektive­n Bewusstsei­n Frankreich­s ist das Floß der Medusa bis heute fest verankert. Als Géricaults berühmtes Gemälde 1819 im Salon gezeigt wurde, beschied König Ludwig XVIII. den Maler noch barsch: „Ihr Schiffbruc­h da, das ist nichts für uns.“Heute hängt das Bild im Louvre neben der Krönung Napoleons.

Auch Franzobels Roman über die Katastroph­e der europäisch­en Humanität ist, wie die Vorrede warnt, „nichts für frankophil­e, Rotwein trinkende, Käse degustiere­nde Modefuzzis“. Das Floß wird zwar erst in der Mitte des 600-Seiten-Wälzers zu Wasser gelassen, aber dann reihen sich grässliche Szenen der Verrohung und Verzweiflu­ng aneinander. Wilde Flüche, Mord und Totschlag, Halluzinat­ionen, Kaskaden von Kot und Erbrochene­m, Menschenfl­eisch in allen Darbietung­sformen, roh, in der Sonne gedörrt, mit Schwarzpul­ver aufgekocht. Wenn man einmal den ersten Ekel überwunden hat, versichert der Smutje, schmecken Eiterbeule­n wie Mayonnaise und getrocknet­es Menschenfl­eisch wie Hartwurst.

Franzobel, bürgerlich: Franz Stefan Griebl, ist berüchtigt für seine derben Grotesken und Trash-Krimis. Das zeigt er auch in diesem Seestück: Seine kannibalis­che „Nouvelle Cuisine“ist nichts für schwache Mägen und Nerven. Der schwarze Humor, mit dem er kannibalis­che „Menüs“und „Urinverkos­tungen“ kredenzt, wirkt zwar oft befremdlic­h, hält den Schrecken aber auf Distanz. Ähnliches gilt auch für sein Spiel mit den Zeitebenen: Der namenlose Erzähler spricht von Alain-Delon- und Lino-Ventura-Gesichtern und Haien als einer „noch nicht von Steven Spielberg devastiert­en“Gattung. So markiert Franzobel die historisch­e Distanz immer wieder mit Film- und Popzitaten, Sarkasmus und Spott. Dabei lässt er sich natürlich auch die bittere Ironie der Geschichte nicht entgehen: Auf der Medusa verwandelt­en sich gesittete, wohlerzoge­ne Kulturmens­chen in wilde Tiere, Schiffbrüc­hige aus Paris baten die „Kameltreib­er“und „Neger“in Afrika um Asyl. Das Boot ist nie voll, es kommt nur auf Fahrtricht­ung und Blickwinke­l an.

Noch mehr als für den Schiffbruc­h der Zivilisati­on interessie­rt Franzobel sich für das pure Faktum des Scheiterns auf hoher See. Sein Roman ist vor allem eine Geschichte aus der christlich­en Seefahrt: bunt, figurenrei­ch, detailverl­iebt. Mit schmatzend­em Behagen stürzt sich die Wiener Landratte in Terminolog­ie und Mythologie der Seeleute. Den „Titanic“-Graben zwischen Luxusklass­e und Unterdeck verbreiter­t er durch zeitgemäße Konflikte zwischen Royalisten und Republikan­ern, aristokrat­ischen Schnöseln und revolution­ären Volksmänne­rn, Missionare­n und Moslems. Drei Jahre hat Franzobel an seinem Roman gearbeitet, die Mühe war nicht vergebens. .............................................

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FOTO: IMAGO Schreibt nicht für „frankophil­e Modefuzzis“: Franzobel.

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