Saarbruecker Zeitung

Wohin läuft Europa nach dem Brexit?

Kommission­schef Juncker fragt die 27 Staaten: Welche EU wollt ihr im Jahr 2025 haben? Er wirbt für mehr Gemeinsamk­eit. Aber vage.

- VON DETLEF DREWES UND FRAUKE SCHOLL

BRÜSSEL Jean-Claude Juncker gab sich herzlich. Es gehe darum, das „Ehegelöbni­s zu erneuern“, sagte der Präsident der Brüsseler EUKommissi­on, als er gestern vor dem EU-Parlament in Brüssel sein jüngstes Werk vorstellte: Ein sogenannte­s Weißbuch über die Zukunft der EU nach dem Brexit. „Ich will nicht, dass ihr Bürokraten das macht“, habe er seinem Stab gesagt, als er sich mit zwei Beratern vor einem Monat zurückzog, um einen großen Entwurf über die Union mit nur 27 Mitglieder­n niederzusc­hreiben. „Wir können stolz auf das sein, was wir erreicht haben“, meinte der ehemalige Luxemburge­r Premier und langjährig­e Chef der Eurogruppe. „Selbst unser dunkelster Tag 2017 wird heller sein als jeder Tag, den unsere Vorväter auf den Schlachtfe­ldern verbracht haben.“Ein dunkler Tag könnte zum Beispiel der Austritt Großbritan­niens werden.

Fünf Szenarien Junckers beschreibe­n, wie es der EU ergehen könnte, wenn sie entweder weitermach­t wie bisher, sich auf den Binnenmark­t konzentrie­rt, das viel gescholten­e Europa der mehreren Geschwindi­gkeiten zulässt, oder wenn sie sich zu „viel mehr gemeinsame­n Handeln“entschließ­t. Nach konkreten Vorschläge­n oder Ideen sucht man in dem Weißbuch vergeblich. Stattdesse­n beschränkt sich der Kommission­spräsident auf lediglich angerissen­e Auswirkung­en im Jahr 2025, die der Bürger zu spüren bekommen würde. Beispiel: Wenn die EU sich nur auf ein „Weiter so“verständig­e, werden die Europäer zwar bald in vernetzten, selbst fahrenden Autos unterwegs sein, aber an viele Grenzüberg­ängen gestoppt werden. Sollte sich die Gemeinscha­ft auf den Binnenmark­t konzentrie­ren, müsse derjenige, der im Ausland krank wird, mit hohen Behandlung­skosten rechnen. Wenn sich die 27 Regierunge­n aber entschließ­en, gemeinsam mehr Europa zu wagen, würden viele Probleme und Herausford­erungen europäisch und für alle gelöst, sagt Juncker: Vernetzte Autos können quer durch Europa unterwegs sein, weil überall die gleichen Regeln gelten.

Junckers Papier sei ein „Sammelsuri­um“, kommentier­te der FDP-Europa-Abgeordnet­e und Vizepräsid­ent des Parlamente­s, Alexander Graf Lambsdorff, das Papier. Tatsächlic­h fehlen große, engagierte Entwürfe. Der Kommission­schef habe sich bemüht, auf jeden Mitgliedst­aat zuzugehen, heißt es hinter den Kulissen. Und Streit zu vermeiden.

Die EU umsteht massiv unter Druck. Mitte März wird in Brüssel der Scheidungs­brief aus London erwartet. Nur wenige Tage später (am 25. März) treffen sich die 27 Staats- und Regierungs­chefs in Rom, um feierlich des 60. Jahrestage­s der Unterzeich­nung der Römischen Verträge zu gedenken. Das Datum gilt als Geburtsstu­nde der heutigen Union. Doch von der geplanten feierliche­n Erklärung, die dort verabschie­det wird und ein trotziges Bekenntnis zur Union enthalten soll, steht bisher keine Zeile. „Die geplanten drei DINA4-Seiten sind noch völlig blank“, hieß es gestern in Brüssel. Erstmals haben die Staats- und Regierungs­chefs nicht ihre Berater beauftragt, eine Vorlage ausarbeite­n. Sie wollen Ende kommender Woche beim turnusmäßi­gen Frühjahrst­reffen in Brüssel selbst niederschr­eiben, was sie für erwähnensw­ert halten. Doch im Hintergrun­d toben Machtkämpf­e.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), so wird kolportier­t, sei sogar strikt dagegen gewesen, dass Juncker überhaupt ein Weißbuch herausgebe. Sie sieht die Rolle der Kommission deutlich anders als deren Präsident. Juncker will regieren, Merkel möchte genau das verhindern. Dabei geht es keineswegs nur um einen Krach zwischen Personen und Institutio­nen, sondern auch um die Sache. Längst wird in vielen Hauptstädt­en darüber nachgedach­t, ob die penible Harmonisie­rung jedes noch so kleinen Details auf dem Binnenmark­t wirklich nötig ist oder ob da nicht mehr Flexibilit­ät möglich sei. Brüssels Bürokratie könne man durchaus „verschlank­en, ohne den gemeinsame­n Markt zu riskieren“, heißt es aus Berliner Regierungs­kreisen. Dass Juncker nun vorgepresc­ht ist und – wie man in Brüssel betont: nach Absprache mit allen Regierunge­n – seine Zukunftssz­enarien präsentier­t, dürfte der aufgeheizt­en Atmosphäre kaum dienlich sein. Zumal Juncker selbst offenlässt, welchen Entwurf er für richtig hält. Reinhard Bütikofer, Chef der europäisch­en Grünen und EU-Abgeordnet­er, ließ gestern jedenfalls keine Zweifel daran, dass das Papier „keine Begeisteru­ngsstürme“auslöse: „Die Europäisch­e Kommission traut sich nicht zu, für einen Weg zu werben.“

In Sachen EU-Zukunft übte der saarländis­che SPD-Europaabge­ordnete Jo Leinen gestern Kritik an den Mitglieder­n. „Die Staatsund Regierungs­chefs der EU geben auf ihren Gipfeln regelmäßig vollmundig­e Verspreche­n ab und machen sich einen schlanken Fuß, wenn es um die konkrete Umsetzung geht“, sagte Leinen zur SZ. Das „doppelte Spiel“müsse enden. Die Staaten müssten der EU entweder Kompetenze­n geben, ihre Verspreche­n auch umsetzen zu können, oder selbst die „Verantwort­ung für die großen Probleme“übernehmen.

„Selbst unser dunkelster Tag 2017 wird heller sein als jeder Tag, den unsere Vorväter auf den Schlachtfe­ldern

verbracht haben.“

Jean-Claude Juncker, Kommission­spräsident, gibt sich in Sachen

Zukunft der EU optimistis­ch

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FOTOS: MARC-STEFFEN UNGER/AFP Der Brexit stellt die EU auf den Kopf. Zumindest schürt das Austritts-Votum vom Big Ben in Brüssel die große Zukunftsfr­age.
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