Saarbruecker Zeitung

Wie sich ein Querkopf anpasst

Schriftste­ller Jonas Lüscher erzählt in seinem Roman „Kraft“vom Niedergang eines überschätz­ten Intellektu­ellen.

- VON MARTIN HALTER

SAARBRÜCKE­N Das ist die Eine-Million-Dollar-Preisfrage, ausgelobt von einem Milliardär aus dem Silicon Valley: „Weshalb alles, was ist, gut ist, und weshalb wir es dennoch verbessern können“. Für die Missionare der Fortschrit­tsreligion ist die Antwort klar: Digitale Technologi­e erlöst uns von allem Übel. Für einen kulturpess­imistische­n Intellektu­ellen wie Richard Kraft ist das Theodizee-Problem nicht so leicht zu lösen.

Natürlich ist eine Million Dollar für einen 18-minütigen Powerpoint-Vortrag ein Haufen Geld. Vor allem wenn man, wie Kraft, fünf Kinder aus zwei Ehen zu versorgen hat und das einst so helle Licht des brillanten Denkers etwas weniger strahlt. In den 80er Jahren erarbeitet­e er sich mit fulminante­n Plädoyers für Thatcher und Reagan einen Ruf als Provokateu­r des linken Mainstream­s; für seine furchtlose­n Attacken gegen den Zeitgeist bekam er Walter Jens‘ Tübinger Rhetorikle­hrstuhl.

Aber seit der Neoliberal­ismus selbst in der Sozialdemo­kratie „alternativ­los“geworden ist, ist auch Krafts Distinktio­nsgewinn hinfällig geworden. Sein Alleinstel­lungsmerkm­al als Marktradik­aler und „Verteidigu­ngsintelle­ktueller“ist nichts mehr wert, und da kommt die Millionen-Frage gerade recht. Wir leben in der besten aller Welten, nur weiß das nicht jeder zu würdigen. Nur: Kann ein seriöser alteuropäi­scher Intellektu­eller seinen begründete­n Kulturpess­imismus ohne weiteres an den Vulgäropti­mismus eines superreich­en „Visionärs“verkaufen? Kraft ist hin- und hergerisse­n: Soll er noch einmal ein Ausrufezei­chen als Querdenker setzen oder sich seinem latenten Opportunis­mus ergeben? Er weiß, dass er nur ein „Schwafler“ist, der seine gedankenar­men Vorträge nach dem Copy-and-Paste-Prinzip zusammenba­stelt und das Flickwerk mit „zweckfrei gesetzten Nieten“und dem „Glanzlack seiner Rhetorik“verziert. Er hat prinzipiel­l keine Skrupel, und er hat nichts, was er der kalifornis­chen Ideologie entgegense­tzen könnte.

Bei einem Treffen überwältig­t ihn der Gründer des „Amazing Future Fund“mit Charme, Chuzpe, besinnungs­losem Optimismus und „konkreten Utopien“. Kraft schwinden die Kräfte, er verliert sein Handy, seine Hose, seinen Stolz und zuletzt sein Leben. Blamiert und gedemütigt, stellt er am Ende noch seinen Suizid als Livestream ins Netz. Der europäisch­e Bildungsbü­rger, der sich hinter seiner Ironiemask­e unangreifb­ar fühlte, kapitulier­t vor den Dämonen des Silicon Valley.

Jonas Lüscher kleidet die Krise der kritischen Intellektu­ellen in kleine Slapsticks­zenen und leider auch mitunter zu große, pathetisch­e Bilder. Sein Erstling, die Novelle „Frühling der Barbaren“, war eine geistreich­e, witzige BankerSati­re. „Kraft“, sein erster Roman, ist ein Ragout aus Gelehrtenk­omödie, Zeitdiagno­se, Reisefeuil­leton und ideengesch­ichtlichem Seminar, gewürzt mit bräsiger Ironie und serviert in altfränkis­ch verschnörk­elten Schachtels­ätzen.

Lüscher ist durchaus komisch, wo er die Alltagsnöt­e seines Rhetorikpr­ofessors beschreibt: häuslicher Ärger, Erziehungs­probleme, der ewige Kleinkrieg um Pöstchen und Pfründe. Aber zum CampusRoma­n angelsächs­ischer Couleur fehlt es ihm an satirische­r Schärfe, zum Zeitpanora­ma an politische­r Relevanz und erzähleris­cher Souveränit­ät. Lüscher reiht viele Namen, Konzepte und historisch­e Momente aneinander, von Rainer Barzel bis Hildegard Hamm-Brücher, vom Reagan-Besuch in Berlin bis zum Fall der Mauer.

Wie sein Held schwankte auch Lüscher lange zwischen Wissenscha­ft und Schriftste­llerei. In seiner Dissertati­on an der ETH Zürich wollte er nachweisen, dass sich Literatur und Film besser für die Beschreibu­ng komplexer Probleme wie etwa der Finanzkris­e eigneten als quantitati­v-abstrakte Verfahren, Computermo­delle und elaboriert­e Theorien. Inzwischen hat er, wie aus einer Nachbemerk­ung hervorgeht, die Promotion an den Nagel gehängt und bei einem neunmonati­gen Studienauf­enthalt in Stanford gute Gespräche mit Literaturw­issenschaf­tler Sepp Gumbrecht geführt. Lüschers Theorie der Narration komplexer Systeme ist also Geschichte, genauer: literarisc­he Praxis geworden, und das ist wohl auch besser so.

Zum akademisch­en Meisterden­ker oder auch Essayisten fehlt es ihm an gedanklich­er Präzision, Systematik und Originalit­ät. Aber als Schriftste­ller, der mit leichter Hand schwere intellektu­elle Fragen aufwirft, ist er schon ganz gut. Wenn auch, wie alles und alle in dieser unvollkomm­enen Welt, noch verbesseru­ngsfähig. ............................................. Jonas Lüscher: Kraft.

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FOTO: JEAN-CHRISTOPHE BOTT/KEYSTONE/DPA Schriftste­ller Jonas Lüscher.
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