Saarbruecker Zeitung

Das Märchen von der guten Betreuung

Die Stadt schafft immer mehr Betreuungs­plätze in ihren Kitas. Doch dadurch entsteht ein neues Problem: Die Betreuer haben jetzt kaum noch Zeit für die einzelnen Kinder.

- VON FABIAN BOSSE

„Die aktuelle Situation in den Kitas

grenzt an Kindeswohl­gefährdung.“

Leiterin einer Saarbrücke­r Kita „Meine Mitarbeite­r sind

massiv überlastet. Viele stehen kurz vor

dem Burn-out“

Leiterin einer Saarbrücke­r Kita

SAARBRÜCKE­N Wenn Angela ihren vierjährig­en Sohn zur Kita bringt, dann hat sie ein gutes Gefühl. Sie und ihr Mann haben sich viel mit den pädagogisc­hen Konzepten beschäftig­t und danach die beste Kita für Felix ausgesucht. Die Kindergärt­en werben mit einem vielfältig­en Programm um die Gunst der Eltern: Musikerzie­hung, Fremdsprac­henunterri­cht, Vorschulpr­ogramme, Naturpädag­ogik. Was Angela und ihr Mann aber vor allem wollen ist, dass sich ihr Sohn wohlfühlt. In den Arm genommen wird, wenn er weint, Hilfe bekommt, wenn er bastelt, ein waches Auge auf ihm ruht, wenn er tobt, damit er sich nicht wehtut.

Die Realität sieht aber anders aus: „Die aktuelle Situation in den Kitas grenzt an Kindeswohl­gefährdung.“Das sagt nicht irgendwer, sondern die Leiterin einer Saarbrücke­r Kita. „Wir machen keine Vor- oder Nachbereit­ung der Stunden, lassen Elterngesp­räche und Auswertung­en ausfallen. Die Kinder in der Kita können nur noch betreut und beaufsicht­igt werden. Mehr ist nicht drin.“Die Leiterin will anonym bleiben. Sie befürchtet, dass diese Aussagen sie den Job kosten könnten.

Es ist ungewöhnli­ch, dass sich eine Leiterin zu solch dramatisch­en Schilderun­gen hinreißen lässt. Sie muss aber letztlich resigniere­nd das bestätigen, was die SZ in einer Recherche zusammenge­tragen hat. Dass Eltern gebeten werden, ihre Kinder zuhause zu lassen oder früher abzuholen, weil nicht genug Erzieher da seien. Dass Kitas teilweise früher schließen, Gruppen zusammenge­legt werden. Aktivitäte­n oder Ausflüge ausfallen müssen, weil nicht genug Betreuer zur Verfügung stehen. Eltern berichten von Vorfällen, bei denen Kinder in überfüllte­n

Schlafsäle­n eine Stunde geschrien hätten, weil sie durch das wenige Personal nicht zu beruhigen waren.

Diese Hilferufe sind kein Einzelfall aus einer städtische­n Kita, auch Eltern anderer Einrichtun­gen berichten Ähnliches.

Die dramatisch­e Lage in den Kitas, hat ihre Ursache in einer eigentlich guten Entwicklun­g: In Saarbrücke­n sind seit 2011 rund 1500 neue Krippenplä­tze entstanden. Dazu ist das Angebot an Ganztagspl­ätzen in den Kitas für Kinder über drei Jahre deutlich ausgebaut worden. Das Problem ist nur: Es gibt nun zwar viele Plätze, aber nicht genug Erzieher. Zu schlecht noch die Bezahlung, zu wenige Anreize für Pädagogen.

Die Bertelsman­n Stiftung hat sich in einer Studie mit der Kinderbetr­euung an deutschen Kitas beschäftig­t. Als wesentlich­e strukturel­le Voraussetz­ung für die Qualität einer Kita hat sie hierbei das Verhältnis zwischen der Zahl der Erzieher und der Kinder ausgemacht. Die Macher der Studie empfehlen, dass in Krippen auf einen Erzieher 3 Kinder kommen sollten. In Kitas soll indes ein Erzieher nur für maximal 7,5 Kinder verantwort­lich sein.

Die Realität sieht anders aus: Im Saarland ist die Quote 1 zu 3,5 in Krippen und in Kindergärt­en 1 zu 9,6. Nun könnte man sagen, das Saarland sei nah dran. Die Quote für das Saarland spiegelt aber nicht die aktuelle Situation wider. Denn sie rechnet mit einer Personalsi­tuation, die es erstens in der Realität nicht annähernd gibt, und zweitens geht sie von falschen Voraussetz­ungen aus. Die Personalsc­hlüssel der Stadt gehen davon aus, dass sich ein Erzieher zu 100 Prozent der Betreuung der Kinder widmet, kritisiert eine städtische Kitaleiter­in. Zur Arbeitszei­t gehörten aber auch zum Beispiel Elterngesp­räche und pädagogisc­he Vor- sowie Nachbereit­ungen. Die Bertelsman­n Stiftung geht davon aus, dass mindestens 25 Prozent auf diese Tätigkeite­n fallen. Wenn die Stadt also diese 25 Prozent im Personalsc­hlüssel ignoriert, dann gibt es eine gewollte strukturel­le Unterperso­nalisierun­g in Saarbrücke­r Kitas. Das bedeutet: Statistisc­h liegt das Betreuungs­verhältnis im Falle eines Personalsc­hlüssels von 75 Prozent schon bei 1:12,8. Voraussetz­ung ist aber, dass alle Stellen besetzt sind. In den 20 Kitas der Stadt arbeiten derzeit 350 Erzieher in Vollzeitun­d Teilzeitar­beitsverhä­ltnissen. Wie die Stadt mitteilt, können derzeit 19 Stellen nicht besetzt werden.

In der oben beschriebe­n Kita, in der die Leiterin die Vorwürfe der Eltern bestätigen musste, ist die Situation ernst. Unbesetzte Stellen und Langzeitkr­ankenschei­ne machen allein schon 25 Prozent fehlendes Personal aus. Hinzu kommen akute Krankheits­fälle. „Meine Mitarbeite­r sind massiv überlastet. Das merkt man an den steigenden Krankensch­einen. Mitarbeite­r sind anfälliger für Infekte, die Gesundung dauert länger als früher. Statt ein paar Tage dauert sie zwei Wochen, und dann sind sie oft immer noch nicht richtig auskuriert. Ich muss Mitarbeite­r teilweise nach Hause schicken, um meiner Fürsorgepf­licht nachzukomm­en. Viele Mitarbeite­r stehen vor dem Burn-out“, sagt sie.

Die Zahlen der Stadt bestätigen diese Notlage: Rund fünfzig Krankmeldu­ngen lagen vergangene Woche vor. Somit fehlen fast 20 Prozent der Erzieher. Nimmt man alles zusammen, steht theoretisc­h derzeit nur knapp die Hälfte des Personals für die Betreuung der Kinder zur Verfügung. Die Bertelsman­n

Stiftung errechnet dafür ein Betreuungs­verhältnis von 1:17 und schlechter.

Hat die Stadt vor ein paar Tagen noch versichert, die Situation sei aufgrund von Erkältungs­zeit und Fachkräfte­mangel zwar schwierig, aber nicht besorgnise­rregend, reagiert sie auf die SZ-Recherchen nun offen und ehrlich: Zwar habe man versucht, mit sogenannte­n Springerst­ellen die Lage zu entspannen, aber die Lücken, die Personalau­sfälle reißen, seien immer schwierige­r zu schließen. „Von einer ausreichen­den Besetzung kann daher in der aktuellen Situation nicht die Rede sein“, sagt Stadtsprec­her Thoma Blug. Die Stadt kann für die Situation eigentlich wenig: Der Stellenmar­kt für Erzieher ist leergefegt. Die Personalis­ierung städtische­r Kitas wiederum basiert auf den Vorgaben des Landesjuge­ndamtes und richtet sich nach dem Personalsc­hlüssel des Saarländis­chen Kinderbetr­euungsund Bildungsge­setzes (SKBBG).

„Die maßgeblich­en Personalsc­hlüssel genügen nicht mehr den Anforderun­gen der Praxis in den Kitas und sollten dringend angepasst werden. Die Inhalte und die Herausford­erungen verlangen vor allem eines: Personal“, sagt Stadtsprec­her Thomas Blug und fügt an, man nehme die erhöhte Belastung der Mitarbeite­r mit Sorge wahr. Man bemühe sich gerade darum, das Bewerbungs­verfahren zu beschleuni­gen.

Doch die Situation könnte sich sogar noch zuspitzen: Der Regionalve­rband meldet, dass 2016 schon rund 480 Kindergart­enkinder mehr im Regionalve­rband leben, als noch 2015.

Im Krippenalt­er gibt es sogar 550 Kinder mehr, als noch vor einem Jahr.

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SYMBOLFOTO: ARNO BURGI/DPA Keine Zeit für die Kleinsten: In Saarbrücke­r Kitas spitzt sich die Personalno­t weiter zu. Von einer ausreichen­den Besetzung kann nicht die Rede sein, sagt die Stadt.

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