Saarbruecker Zeitung

Eine „doppelte“Regierungs­erklärung zur Türkei-Krise

Kanzlerin Merkel kritisiert­e im Bundestag die Nazi-Vorwürfe aus Ankara. Noch deutlicher wurde allerdings Bundestags­präsident Lammert in seiner Rede.

- VON STEFAN VETTER Jörg Wingertsza­hn, Robby Lorenz Pascal Becher, Jana Freiberger

BERLIN Für Angela Merkel ist das alles längst Routine. Doch es gibt auch noch Überraschu­ngen. Eine „Regierungs­erklärung“will die Kanzlerin am Morgen im Bundestag halten. Diesmal zum EU-Gipfel, der am Nachmittag in Brüssel beginnt. Bei dem Treffen geht es um eine klare Ansage gegen die Abschottun­gspolitik der USA, um die Flüchtling­skrise, aber natürlich auch um die zerrüttete EU. Deutschlan­d indes scheint derzeit nur ein Thema zu kennen: die angespannt­e Beziehung zur Türkei und die provokante­n Wahlkampfa­uftritte türkischer Regierungs­vertreter. So kommt es auch zu dem ungewöhnli­chen, aber gleichwohl mit allen Bundestags­parteien abgestimmt­en Vorgang, dass Parlaments­präsident Norbert Lammert zunächst selbst eine Art Regierungs­erklärung abgibt, bevor er Merkel das Wort zu der ihrigen erteilt.

In der Regierungs­erklärung der Kanzlerin, ganz sicher aber in der drauffolge­nden Debatte, werde es auch um das deutsch-türkische Verhältnis gehen, sagt Lammert im Brustton tiefster Überzeugun­g, so, als hätte er Merkels Rede mitverfass­t. Hat er natürlich nicht. Aber Lammert, ein Meister rhetorisch geschliffe­ner Extravagan­zen, trifft damit wieder einmal die Stimmung der Bundestags­abgeordnet­en. Hierzuland­e könnten auch ausländisc­he Gäste ihre Meinung sagen, fährt er fort. „Wir aber auch.“

Großer Beifall des ganzen Hauses. Deshalb, so der CDU-Politiker weiter, werde man es sich „gerade auch im Interesse unserer türkischen Mitbürger, die zugleich deutsche Staatsbürg­er sind, nicht nehmen lassen, darauf hinzuweise­n, wohin es die Türkei absehbar führen wird, wenn die Pläne, für die türkische Politiker in Deutschlan­d werben, verwirklic­ht werden können: nämlich in die Entwicklun­g zu einem zunehmend autokratis­chen Staat“.

Damit ist praktisch alles gesagt zum Thema Türkei. Aber eben nicht von allen. Auch Merkel kommt natürlich darauf zu sprechen. Allerdings viel verschwiem­elter als Lammert, das ist ihr Naturell. Die unsägliche­n NaziVergle­iche, wie sie von türkischer Seite zu hören waren, seien „überaus traurig“und gingen „auf gar keinen Fall“, so die Kanzlerin. Aber so „unzumutbar“manches auch sei, Deutschlan­ds „geopolitis­ches Interesse“könne es nicht sein, „dass sich die Türkei weiter von uns entfernt“.

Die Abgeordnet­e Sevim Dagdelen, eine radikale Vertreteri­n der Linken, wirft der Kanzlerin deshalb später vor, sich durch den „Merkel-Erdogan-Pakt“– gemeint ist das EU-Flüchtling­sabkommen mit der Türkei – „erpressbar“gemacht zu haben. Dagdelen ist praktisch die einzige Rednerin, die sich für ein Verbot von Auftritten türkischer Politiker in Deutschlan­d ausspricht. Auch Linken-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch, der gleich nach Merkel redet, begrüßt demonstrat­iv die Haltung Lammerts. Sein SPDAmtskol­lege Thomas Oppermann stellt klar, dass ein Redeverbot für türkische Politiker dem Diktator am Bosporus nur in die Hände spielen würde. Erdogan suche derzeit ein Feindbild. „Dabei sollten wir ihm nicht helfen.“

Grünen-Chef Cem Özdemir indes nimmt Lammert buchstäbli­ch beim Wort und fordert die in Deutschlan­d lebenden Türken vom Rednerpult des Bundestage­s glasklar auf, beim Verfassung­sreferendu­m zur Errichtung eines auf Erdogan zugeschnit­tenen Präsidials­ystems mit „Nein“zu stimmen. „Unsere Demokratie ist nicht dazu da, in der Türkei eine Diktatur zu errichten.“Dafür bekommt der türkischst­ämmige Politiker besonders starken Applaus. Auch Unionsfrak­tionschef Volker Kauder (CDU) gießt noch etwas Öl ins Feuer. „Ein Land, dessen Repräsenta­nten sich so verhalten wie Erdogan, braucht sich nicht wundern, wenn der Tourismus zurückgeht. In einem solchen Land wollte ich auch nicht Urlaub machen“, sagt Kauder.

Die Bundeskanz­lerin ist da schon fast auf dem Sprung. Der Flieger zum EU-Krisentref­fen in Brüssel wartet.

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