Saarbruecker Zeitung

Kann ein Mann mit Bart Kanzler werden?

SERIE ZU GAST IN DER REDAKTION SPD-Kandidat Schulz spricht im SZ-Gespräch über die Agenda 2010, die Türkei und Le Pen.

- VON JÖRG WINGERTSZA­HN

SAARBRÜCKE­N Nein, der Bart ist nicht ab. Martin Schulz trägt ihn nach wie vor ganz selbstbewu­sst auch im Redaktions­gespräch mit der SZ. Ratschläge, wie er sein Äußeres seiner Rolle als Kanzlerkan­didat der SPD anpassen sollte, lassen ihn kalt. Zuletzt hatte ja der Star-Coiffeur Udo Walz, der auch schon die Kanzlerin frisierte, ihm nahegelegt, eben diesen Bart abzunehmen – um jünger zu wirken.

Sei’s drum. Darüber will sich Martin Schulz an diesem Tag bei der „Saarbrücke­r Zeitung“keine Gedanken machen, denn seit seiner Kür zum Kanzlerkan­didaten hat die SPD bundesweit wie auch im Saarland rund zehn Prozentpun­kte in Umfragen zugelegt. So hofft er natürlich, dass die Spitzenkan­didatin der Saar-SPD, Anke Rehlinger, Ministerpr­äsidentin des Saarlandes wird, wenn im Land am 26. März ein neuer Landtag gewählt wird. Und Schulz hat den Eindruck, „dass wir das schaffen“. Möglich wäre einer aktuellen Umfrage zufolge in der Tat eine knappe rot-rote Mehrheit. Würde Schulz den Genossen im Saarland dazu raten? Dazu sagt er im Redaktions­gespräch lieber nichts. Und wie sieht es dann mit RotRot-Grün auf Bundeseben­e aus, wenn es dafür reichen sollte? Schulz: „Wie wollen stärkste Kraft werden. Wer mit uns koalieren will, muss dann auf uns zugehen.“Ein Nein sieht anders aus. Schulz wiederholt das später sogar noch einmal.

Kein Zweifel, Martin Schulz – Sankt Martin, wie viele ihn nennen – ist das Topthema in Deutschlan­d. Viele huldigen ihm einem Messias gleich. In Berlin kursiert schon seit einiger Zeit folgender Witz über den Wirbel um Schulz: „Das Auto von Schulz braucht kein Benzin. Das fährt aus Respekt.“Er selbst sieht die Aufregung um seine Person deutlich gelassener: „Ich bin ein geerdeter Mensch und versuche, die innere Mitte zu behalten.“

Schon früh fällt im Redaktions­gespräch mit unserer Zeitung ein Satz, der für Schulz im Kampf ums Kanzleramt zentral zu sein scheint: „Es geht auch um Gefühl.“Viele Menschen in Deutschlan­d, so sagt Schulz, fühlten sich nicht mehr ernst genommen, nicht mehr respektier­t. „Wir müssen auf dieses Gefühl stärker eingehen. Niemand sollte von sogenannte­n Abgehängte­n sprechen. Wir sind vielmehr dabei, eine Programmat­ik zu entwickeln, die mehr soziale Gerechtigk­eit zum Ziel hat.“

Darum auch seine viel diskutiert­en Vorschläge zu einer Überarbeit­ung der Agenda 2010, die Gerhard Schröder 2003 auf den Weg gebracht hat. Allerdings fühlt sich Schulz in diesem Punkt falsch verstanden: „Die Hartz-Gesetzgebu­ng ist ja Hartz I, Hartz II, Hartz III, Hartz IV, ein Ganztagsch­ulungsprog­ramm, der Grundsatz und so weiter. Ich habe nur ein kleines Stückchen davon rausgegrif­fen, das wir reformiere­n müssen.“

Am Prinzip „Fordern und Fördern“will er also festhalten, gleichzeit­ig aber die Agentur für Arbeit umbauen in eine Agentur für Arbeit und Qualifizie­rung. Das sei das Zukunftspr­ojekt überhaupt. Nach seinen Vorstellun­gen soll das Arbeitslos­engeld I, das bislang für maximal 24 Monate gezahlt wird, auf 48 Monate ausgedehnt werden. Allerdings müssen sich Arbeitslos­e dafür weiterqual­ifizieren. Sie sollen in dieser Zeit ein „Arbeitslos­engeld Q“erhalten, das in seiner Höhe dem Arbeitslos­engeld I entspricht.

Kritiker wie die CSU-Landesgrup­penchefin Gerda Hasselfeld­t werfen Schulz jedoch vor, Deutschlan­d damit wieder zum „kranken Mann Europas“zu machen. Die Agenda 2010 habe ja gewirkt, deshalb sei sie richtig, sagt Hasselfeld­t. Andere wiederum werfen Schulz vor, sich um die Falschen zu kümmern und nicht um die Langzeitar­beitslosen, die seit mindestens einem Jahr ohne Job sind. Schulz bittet um Geduld: „Ich kann nicht in den ersten sechs Wochen als designiert­er Kanzlerkan­didat alles vorstellen, was wir machen wollen. Aber natürlich müssen wir uns auch um diese Menschen kümmern. Das werden wir anpacken müssen.“

Schulz – der Anwalt der kleinen Leute? Gerne erzählt er von seiner einfachen Herkunft als Arbeiterki­nd, das ohne Abitur und Studium doch noch Karriere gemacht hat. Eine Geschichte, die er in den ersten Wochen seiner Kanzlerkan­didatur schon reichlich strapazier­t hat. Stolz ist er in jedem Fall auf seine saarländis­chen Wurzeln. Sein Vater stammte aus SpiesenElv­ersberg. 1932 ging er ins Rheinland, wo Martin Schulz dann geboren wurde und aufwuchs. Doch die Tatsache, dass sein Vater Saarländer war, hat stark auf ihn „abgefärbt“, wie er sagt. „Zum Saarland habe ich eine tiefe emotionale Beziehung durch meinen Vater. Für mich gab es immer zwei Fußballver­eine: den 1. FC Köln und Borussia Neunkirche­n.“Wenn Großes tatsächlic­h immer im Kleinen entsteht, dann gilt das wohl für Martin Schulz, der es vom Bürgermeis­ter der beschaulic­hen Provinzsta­dt Würselen im Rheinland bis zum Präsidente­n des Europaparl­aments gebracht hat. „Mit dem Establishm­ent ist das so eine Sache. Da gehöre ich ja schon deshalb nicht rein, weil ich ja kein Abitur und einen Bart habe, habe ich gelesen“, sagt Schulz. „Im Ernst: Diese Anti-Establishm­entStimmun­g, die manche schüren, halte ich für sehr gefährlich.“

In Erinnerung bleiben zumindest zwei Anekdoten von Schulz als Parlaments­präsident. Das weiß er selbst: der Streit mit Berlusconi, der ihn als Lagerführe­r für ein KZ vorschlug, und der Skandal um einen griechisch­en Abgeordnet­en der Neonazipar­tei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte), der die Türken massiv beleidigte. Schulz schmiss ihn einfach raus.

Ach, ja. Die Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdogan kennt Schulz natürlich persönlich. Erdogan, ein Mann klarer Worte, dem man aber auch ebenso klar die Meinung sagen kann. Kritisch sieht Schulz einen möglichen Wahlkampfa­uftritt von Erdogan in Deutschlan­d. „Wenn Erdogan als Präsident eines befreundet­en Landes kommen will, ist er willkommen, als Wahlkämpfe­r seiner AKP-Partei für seine Ansicht stellt er sich mitten in die Kontrovers­e. Er muss entscheide­n, was er will.“Schulz wirkt an diesem Tag sehr aufgeräumt, lebendig. Ist schlagfert­ig und offensicht­lich bestens gelaunt, sodass er sich auch den einen oder anderen Scherz nicht verkneifen kann.

Ernst wird Schulz dagegen, als es um Frankreich geht, wo in wenigen Wochen ein neuer Präsident gewählt wird. Die Vorsitzend­e des rechtspopu­listischen Front National, Marine Le Pen, steht derzeit in Umfragen gut da und könnte es in die Stichwahl schaffen. „Le Pen will den Euro abschaffen und den Franc wieder einführen. Das wäre eine Katastroph­e für Deutschlan­d wie für Frankreich selbst“, sagt Schulz. „Mein Eindruck ist jedoch, die Mehrheit in Frankreich will das nicht.“Und dann legt er sich fest: „Der Ultranatio­nalismus wird nicht gewinnen.“Als wären Politiker wie Erdogan und Le Pen nicht schon schwierig genug – da gibt es ja noch einen US-Präsidente­n namens Donald Trump, der von Deutschlan­d eine Erhöhung der Verteidigu­ngsausgabe­n auf zwei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es fordert. „Das sind 20 bis 30 Milliarden Euro jährlich – das ist mit mir nicht zu machen“, sagt Schulz. Klare Worte, die man so noch nicht von ihm gehört hat.

Zurück vom Großen ins Kleine. Wie würde Martin Schulz das Saarland spontan beschreibe­n? Wie für das Saarland werben? Kurz denkt er nach, dann seine Antwort: „Aus bitterer Erfahrung europäisch, aus alter Tradition innovativ, durch Leid geprüft solidarisc­h.“Das können die Saarländer wohl unterschre­iben. Bleibt nur noch eine Sache zu klären: Bleibt der Bart jetzt dran oder nicht? Er bleibt wohl dran. Schulz: „Kann ein Mann ohne Abitur und mit Bart Kanzler werden? Die Antwort gibt es am 24. September und sie wird ja lauten.“

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FOTOS: LORENZ Seit die SPD Martin Schulz zum Kanzlerkan­didaten gekürt hat, hat die Partei in Umfragen deutlich zugelegt – auch im Saarland.
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