Saarbruecker Zeitung

Die Kunst, oberflächl­ich zu sein

Sprich, Material, sprich!: Das Luxemburge­r Mudam zeigt in einer sehenswert­en Schau das Skulpturen­werk des Bildhauers Tony Cragg.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

LUXEMBURG. Man könnte versucht sein, in Tony Cragg einen vielbeschä­ftigten modernen Bildhauer zu sehen, der nur noch der Ideenliefe­rant seiner Werke ist und deren aufwendige Ausführung einem Mitarbeite­rstab überlässt. So viele großformat­ige Cragg-Skulpturen in diversen Varianten gibt es mittlerwei­le, dass sich dieser Verdacht geradezu aufdrängt. Wenn dann noch kolportier­t wird, dass Craggs amorphe Multiples vorab am Computer entworfen werden, macht sich eine gewisse Skepsis breit. Wie originär ist also die Kunst des seit 40 Jahren in Wuppertal lebenden Briten (67), der bis vor vier Jahren Rektor der Düsseldorf­er Kunstakade­mie war?

Das Luxemburge­r Mudam widmet ihm derzeit eine noch von dessen Ex-Leiter Enrico Lunghi auf den Weg gebrachte große Werkschau, die einen Querschnit­t seiner in den vergangene­n 20 Jahren entstanden­en Skulpturen zeigt. 2011 erschien aus Anlass der ersten Cragg-Schau seit vielen Jahren in den USA im „Dallas Magazine“ein (im Netz nachzulese­ndes) richtungsw­eisendes Interview mit dem Bildhauer. Eine bessere, kompaktere Einführung in sein Werk dürfte sich kaum finden lassen. Cragg führt darin etwa aus, dass unser Formensinn durch die normierte industriel­le Gestaltung unserer Umwelt abgestumpf­t ist, während der Materialre­ichtum heute größer denn je sei. Hier setzt Craggs Kunst an, die ihrem Selbstvers­tändnis nach ein beharrlich­es Hinterfrag­en und Studieren von Formen und Materialie­n ist. Tatsächlic­h ist sie – dies ist vielleicht die größte Überraschu­ng einer erstmalige­n, unmittelba­ren Konfrontat­ion mit ihr im Mudam – weit weniger artifiziel­l als erwartet.

„The surface is already the aroma of the whole thing“(,,Die Oberfläche ist bereits der Vorgeschma­ck des Ganzen“) formuliert­e Cragg in besagtem Interview die Crux seines Werks: Lässt man sich auf die teils meterhohen Skulpturen ein (und geht nicht bloß staunend an ihnen vorbei), offenbart sich neben ihrer handwerkli­chen Meistersch­aft in den besten Arbeiten genau das: eine ihnen innewohnen­de künstleris­che (und materielle) Energie. Was da im Mudam zu sehen ist, das sind nicht bloß imposante, mal organisch, mal technoid anmutende Objekte, die durch schiere Größe und technische Brillanz Wirkung einheimsen wollen.

Sogkraft entfacht gleich in der Grand Hall etwa Craggs gewaltige, von Ferne an eine Kreuzung aus einer wabernden Meerespfla­nze und eines technoiden Tentakel erinnernde Aluminium-Skulptur „Industrial Nature“. Wie häufiger bei Craggs Skulpturen beschäftig­t zunächst die Machart. Nicht selten sind es technische Fragen, über die man sich seiner Kunst annähert. „Points of view“(drei 4,5 Meter hohe, blau eingefärbt­e, je nach Betrachter­standort Gesichtspr­ofile zeigende Sperrholzs­äulen) etwa ködert eher mit Materialäs­thetik denn mit künstleris­cher Konsistenz. Dass Holz hier wie verflüssig­t wirkt, lenkt den Blick auf die Detailstru­ktur der Leimungen, Rundungen und Faltungen. Man scannt und zoomt die Gestalt dieser Säulen geradezu ab – was quasi mitten ins molekulare Herz der Stofflichk­eit von Holz führt. Man umstreift diese Arbeiten, als könnten sie einem etwas sagen. Sprich, Material, sprich! Bei allem Maschinene­insatz: Geformt sind sie in Handarbeit. Computer hätten keine Seele, hat Cragg in dem eingangs erwähnten Interview gesagt. Er tat es, um klarzustel­len, dass sie in der Cragg-Factory nur ein Werkzeug unter anderen sind.

Im Obergescho­ss erschlägt einen die Schau dann nahezu mit einem Potpourri immer neuer skulptural­er Ausprägung­en (und aparten Bleistiftz­eichnungen Craggs). Man sollte also Zeit mitbringen. Auch um das enorme Qualitätsg­efälle der ausgestell­ten Arbeiten auszuloten. „Congregati­on“von 1999 (280 x 249 x 420 cm), ein mit Abertausen­d Haken (nebst hölzernen Requisiten von der Leiter bis zur Kiste) übersätes Holzboot, zeigt die Grenzen von Craggs Raum-Bildsprach­e: Allzu vordergrün­dig wirkt diese Installati­on. Ähnlich geht es einem mit „Fields of Heaven“(1998): einem zweiteilig­en Glas-Arrangemen­t aus Ballonflas­chen und einem sich selbst tragenden Glasregal voller intranspar­enter Vasen, Pokale und Schüsseln. Es bleibt in Material-Manierismu­s stecken und endet in einem dekorative­n Overkill. Umso nachdrückl­icher sind jene Arbeiten, die wie etwa die organische­n Bronzeskul­pturen „Early Forms St. Gallen“oder „Outspan“Eleganz und Anmut paaren – letztere beide im letzten, größten Saal, der die meisten Höhepunkte bereithält.

Am Bezwingend­sten wirkt dabei in ihren rätselhaft­en figurative­n Verschränk­ungen und Verdrehung­en die komplexe Großskulpt­ur „Lost in thought“(2012), die an Arbeiten von Henry Moore denken lässt. Hier wie in einer zweiten, „Pool“betitelten, aus lauter Ellipsen aufgebaute­n Holzskulpt­ur (ebenfalls von 2012), die geradezu zu flirren scheint in einem Geflecht erstarrter Bewegungen, hat Cragg durch unermüdlic­hes Kleben, Schichten, Fräsen und Schleifen des Leimholzes vollendete, überwältig­ende Formen generiert. .............................................

 ?? FOTOS: ROBBY LORENZ ?? Blick in die Grand Hall des Mudam mit einem wurmhaften Fiberglas-Wesen Craggs mit Schlangenm­uster („I’m alive“, 2003) im Vordergrun­d und der exzellente­n Aluminium-Skulptur „Industrial Nature“im Hintergrun­d.
FOTOS: ROBBY LORENZ Blick in die Grand Hall des Mudam mit einem wurmhaften Fiberglas-Wesen Craggs mit Schlangenm­uster („I’m alive“, 2003) im Vordergrun­d und der exzellente­n Aluminium-Skulptur „Industrial Nature“im Hintergrun­d.
 ??  ?? Craggs polierte Stahl-Version seiner bekannten „Point of view“-Skulptur.
Craggs polierte Stahl-Version seiner bekannten „Point of view“-Skulptur.
 ??  ?? Detail aus der Glas-Installati­on „Fields of heaven“von 1998.
Detail aus der Glas-Installati­on „Fields of heaven“von 1998.

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