Die Kunst, oberflächlich zu sein
Sprich, Material, sprich!: Das Luxemburger Mudam zeigt in einer sehenswerten Schau das Skulpturenwerk des Bildhauers Tony Cragg.
LUXEMBURG. Man könnte versucht sein, in Tony Cragg einen vielbeschäftigten modernen Bildhauer zu sehen, der nur noch der Ideenlieferant seiner Werke ist und deren aufwendige Ausführung einem Mitarbeiterstab überlässt. So viele großformatige Cragg-Skulpturen in diversen Varianten gibt es mittlerweile, dass sich dieser Verdacht geradezu aufdrängt. Wenn dann noch kolportiert wird, dass Craggs amorphe Multiples vorab am Computer entworfen werden, macht sich eine gewisse Skepsis breit. Wie originär ist also die Kunst des seit 40 Jahren in Wuppertal lebenden Briten (67), der bis vor vier Jahren Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie war?
Das Luxemburger Mudam widmet ihm derzeit eine noch von dessen Ex-Leiter Enrico Lunghi auf den Weg gebrachte große Werkschau, die einen Querschnitt seiner in den vergangenen 20 Jahren entstandenen Skulpturen zeigt. 2011 erschien aus Anlass der ersten Cragg-Schau seit vielen Jahren in den USA im „Dallas Magazine“ein (im Netz nachzulesendes) richtungsweisendes Interview mit dem Bildhauer. Eine bessere, kompaktere Einführung in sein Werk dürfte sich kaum finden lassen. Cragg führt darin etwa aus, dass unser Formensinn durch die normierte industrielle Gestaltung unserer Umwelt abgestumpft ist, während der Materialreichtum heute größer denn je sei. Hier setzt Craggs Kunst an, die ihrem Selbstverständnis nach ein beharrliches Hinterfragen und Studieren von Formen und Materialien ist. Tatsächlich ist sie – dies ist vielleicht die größte Überraschung einer erstmaligen, unmittelbaren Konfrontation mit ihr im Mudam – weit weniger artifiziell als erwartet.
„The surface is already the aroma of the whole thing“(,,Die Oberfläche ist bereits der Vorgeschmack des Ganzen“) formulierte Cragg in besagtem Interview die Crux seines Werks: Lässt man sich auf die teils meterhohen Skulpturen ein (und geht nicht bloß staunend an ihnen vorbei), offenbart sich neben ihrer handwerklichen Meisterschaft in den besten Arbeiten genau das: eine ihnen innewohnende künstlerische (und materielle) Energie. Was da im Mudam zu sehen ist, das sind nicht bloß imposante, mal organisch, mal technoid anmutende Objekte, die durch schiere Größe und technische Brillanz Wirkung einheimsen wollen.
Sogkraft entfacht gleich in der Grand Hall etwa Craggs gewaltige, von Ferne an eine Kreuzung aus einer wabernden Meerespflanze und eines technoiden Tentakel erinnernde Aluminium-Skulptur „Industrial Nature“. Wie häufiger bei Craggs Skulpturen beschäftigt zunächst die Machart. Nicht selten sind es technische Fragen, über die man sich seiner Kunst annähert. „Points of view“(drei 4,5 Meter hohe, blau eingefärbte, je nach Betrachterstandort Gesichtsprofile zeigende Sperrholzsäulen) etwa ködert eher mit Materialästhetik denn mit künstlerischer Konsistenz. Dass Holz hier wie verflüssigt wirkt, lenkt den Blick auf die Detailstruktur der Leimungen, Rundungen und Faltungen. Man scannt und zoomt die Gestalt dieser Säulen geradezu ab – was quasi mitten ins molekulare Herz der Stofflichkeit von Holz führt. Man umstreift diese Arbeiten, als könnten sie einem etwas sagen. Sprich, Material, sprich! Bei allem Maschineneinsatz: Geformt sind sie in Handarbeit. Computer hätten keine Seele, hat Cragg in dem eingangs erwähnten Interview gesagt. Er tat es, um klarzustellen, dass sie in der Cragg-Factory nur ein Werkzeug unter anderen sind.
Im Obergeschoss erschlägt einen die Schau dann nahezu mit einem Potpourri immer neuer skulpturaler Ausprägungen (und aparten Bleistiftzeichnungen Craggs). Man sollte also Zeit mitbringen. Auch um das enorme Qualitätsgefälle der ausgestellten Arbeiten auszuloten. „Congregation“von 1999 (280 x 249 x 420 cm), ein mit Abertausend Haken (nebst hölzernen Requisiten von der Leiter bis zur Kiste) übersätes Holzboot, zeigt die Grenzen von Craggs Raum-Bildsprache: Allzu vordergründig wirkt diese Installation. Ähnlich geht es einem mit „Fields of Heaven“(1998): einem zweiteiligen Glas-Arrangement aus Ballonflaschen und einem sich selbst tragenden Glasregal voller intransparenter Vasen, Pokale und Schüsseln. Es bleibt in Material-Manierismus stecken und endet in einem dekorativen Overkill. Umso nachdrücklicher sind jene Arbeiten, die wie etwa die organischen Bronzeskulpturen „Early Forms St. Gallen“oder „Outspan“Eleganz und Anmut paaren – letztere beide im letzten, größten Saal, der die meisten Höhepunkte bereithält.
Am Bezwingendsten wirkt dabei in ihren rätselhaften figurativen Verschränkungen und Verdrehungen die komplexe Großskulptur „Lost in thought“(2012), die an Arbeiten von Henry Moore denken lässt. Hier wie in einer zweiten, „Pool“betitelten, aus lauter Ellipsen aufgebauten Holzskulptur (ebenfalls von 2012), die geradezu zu flirren scheint in einem Geflecht erstarrter Bewegungen, hat Cragg durch unermüdliches Kleben, Schichten, Fräsen und Schleifen des Leimholzes vollendete, überwältigende Formen generiert. .............................................