Werden immer besser
Die Fußball-Bundesliga steuert auf einen Negativrekord beim Verwandeln von Elfmetern zu: Jeder dritte wird verschossen. Ein Wissenschaftler kritisiert mangelnde Vorbereitung der Schützen. Er warnt: „Ein Mythos wird aufs Spiel gesetzt.“
SAARBRÜCKEN Nun also auch noch Paul Verhaegh. Dabei ging die Prozedur beim Kapitän des FC Augsburg in der Arena auf Schalke beim Elfmeter wie eigentlich immer. Ball genommen. Ball hingelegt. Strammer Anlauf. Scharfer Schuss. Und dann? Machte sich Entsetzen breit, als Torwart Ralf Fährmann abwehrte. Verteidiger Verhaegh hat sich am Sonntag in die immer länger werdende Liste der Versager eingereiht. Statt 1:2 hieß es am Ende 0:3. Es war der zweite Fehlschuss beim 17. Elfmeter des 33-Jährigen.
Verhaeghs seltener Fauxpas passt ins Bild, das die Bundesliga bietet. Nach 24 Spieltagen gingen 21 von 63 Elfmetern nicht ins Tor – jeder dritte wird also vergeben. Viel fehlt nicht, und die Profis unterbieten die Negativ-Rekordsaison 1979/1980, als 35 von 94 Elfmetern versiebt wurden – teils von Spezialisten wie Manfred Kaltz, Werner Lorant, Bernd Nickel, Bernd Hölzenbein oder Herbert Zimmermann.
Aufgrund von Studien auf internationaler Ebene müsste nach drei von vier Ausführungen der Ball im Netz zappeln. „Die aktuelle Situation ist eine Folge der besseren und vermehrten Vorbereitung der Torhüter“, sagt Georg Froese: „Es wurde ein brachliegendes Potenzial erkannt, das durch detaillierteres Statistik- und Videomaterial ausgeschöpft wird, während die Schützenseite nicht reagiert hat.“Der Sportwissenschaftler der Universität Heidelberg hat mit seiner Dissertation „Sportpsychologische Einflussfaktoren der Leistung von Elfmeterschützen“vor vier Jahren den Wissenschaftspreis des Deutschen Fußball-Bundes gewonnen. Er sieht in der laufenden Saison seine Thesen bestätigt.
Schon 15 Mal parierten Torhüter den Ball in der antizipierten Ecke – oder hielten ihn wie am Freitag der Bremer Felix Wiedwald beim 1:1 bei Bayer Leverkusen fest. Der nicht als „Elfmeter-Töter“aufgefallene Werder-Schlussmann erzählte freimütig, er habe es beim missglückten Versuch von Ömer Toprak „anders gemacht“als vorher. Denn: „Zuletzt bin ich immer in die Ecke gegangen, die auf meiner Elfmeter-Liste stand – und habe nicht gehalten.“
Laut Froese verlassen sich viele Profi-Torhüter durchgängig auf wissenschaftlich basierte Unterstützung: „Dafür sind verschiedene Systeme auf dem Markt.“Der Torwart oder Torwart-Trainer habe häufig auf Laptop oder Smartphone umfangreiche Profile angelegt. Derjenige, der zur Ausführung antritt, überlässt hingegen immer noch „vieles dem Zufall“, wie der Experte kritisiert. Der ehemalige Spieler von Union Berlin konnte nach dem ElfmeterDrama beim EM-Viertelfinale Deutschland gegen Italien im vergangenen Jahr schlussfolgern, wie schlecht geschult selbst deutsche Nationalspieler seien. „Mats Hummels hat beispielsweise bekannt, dass er vor der Ausführung mehrfach hin und her überlegt habe. Das zeigt, dass er auf diese Ausnahmesituation nicht richtig vorbereitet war.“Das Motto: Wird schon irgendwie gutgehen.
Tut es aber nicht. Das unrühmliche Schlusslicht in der ElfmeterRangliste gibt derzeit Bayer Leverkusen: Nur einer von sechs Elfmetern saß. Auch Eintracht Frankfurt und Borussia Mönchengladbach, die je einen von vier Strafstößen verwandelten, weisen peinliche Werte auf.
Ist es denn so schwer in ein 7,32 mal 2,44 Meter großes Gehäuse zu treffen? Eigentlich nicht, erklärt Sportpsychologe Froese – wenn Trainer die Schützen nach ihrer Rolle und Persönlichkeit auswählen und auch bestimmen würden. Als Schlüsselmerkmale gelten – neben der Schusstechnik – die so genannte Wettkampfängstlichkeit und Wahrnehmungsfähigkeit, die etwa ermöglicht, den Torwart auszugucken.
Überdies kann die Exekution im Trainingsalltag simuliert werden. „Es gibt effektive Möglichkeiten, einen Elfmeter vor Zuschauern oder bei Erschöpfung zu simulieren“, sagt Froese. Es sei ein Totschlagargument, Elfmeter ließen sich nicht üben: „Das sind Floskeln von vorgestern.“Der 37-Jährige empfiehlt mindestens einmal wöchentlich ein Elfmeter-Training und kann nicht verstehen, dass diese Ressource nicht besser genutzt wird: „Schießt ein Fußballer durch Elfmeter fünf Tore mehr, steigert das den Marktwert erheblich.“Zudem gefährde die Bundesliga einen Ruf, den die deutsche Nationalmannschaft bei großen Turnieren aufgebaut habe. Froese sagt: „Deutsche Spieler haben kein besonderes ElfmeterGen. Wir setzen gerade einen Mythos aufs Spiel.“
„Es wurde ein brachliegendes Potenzial
erkannt, das durch detaillierteres Statistikund Videomaterial ausgeschöpft wird.“
Georg Froese
Sportwissenschaftler