Saarbruecker Zeitung

Wirtschaft gegen Gewerkscha­ft

In Sachen Arbeitsmar­kt überziehen sich die Gegenspiel­er wechselsei­tig mit „Faktenchec­ks“.

- VON STEFAN VETTER

BERLIN Im Kampf um die Deutungsho­heit der Situation am deutschen Arbeitsmar­kt macht sich der Wahlkampf bemerkbar. Wirtschaft und Gewerkscha­ften beharken sich mit Faktenchec­ks.

Die Gewerkscha­ften applaudier­ten, als SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz versuchte, mit seinem Plädoyer für ein „Arbeitslos­engeld Q“, also einen längeren Leistungsb­ezug bei gleichzeit­iger Weiterbild­ung, die bei den Genossen ungeliebte Agenda 2010 zurückzudr­ehen. Dagegen sieht die Wirtschaft in den einst unter RotGrün beschlosse­nen Arbeitsmar­ktreformen den Erfolgssch­lüssel für Rekordbesc­häftigung und Niedrigarb­eitslosigk­eit. Die Bundesvere­inigung der Deutschen Arbeitgebe­rverbände (BDA) hatte dazu kürzlich eine Broschüre mit dem Titel „Fakten statt Zerrbilder“veröffentl­icht. Jetzt zog der DGB nach – mit einem „Faktenchec­k“der Arbeitgebe­r-Fakten. Die noch unveröffen­tlichte Gegen-Broschüre liegt unserer Redaktion vor. Nachfolgen­d die wichtigste­n Streitpunk­te und Sichtweise­n: Arbeitslos­igkeit: Die BDA verweist darauf, dass es im Jahr 2005 noch 4,9 Millionen Erwerblose gab, zehn Jahre später aber weniger als 2,7 Millionen. Der DGB stellt das nicht in Frage („erfreulich“), hält aber den Blick auf die Zahl der Unterbesch­äftigten im Land für „viel aussagekrä­ftiger“. Also jene Gruppe, von denen viele in Maßnahmen stecken oder krank sind und deshalb nicht für eine Vermittlun­g in Frage kommen. 2016 betraf das insgesamt 3,7 Millionen Menschen. Die BDA wiederum verweist auch hier auf einen starken Rückgang – 2005 waren es noch 6,1 Millionen. Langzeitar­beitslose: Die Zahl der Langzeitar­beitslosen lag 2016 weitgehend unveränder­t bei rund einer Million. Es gab nur einen kleinen Rückgang um 46 000 Personen. „Die Beschäftig­ung steigt, aber die sozialpoli­tischen Probleme ändern sich kaum“, klagt der DGB. Die Arbeitgebe­r gestehen zu, dass der Abbau von Langzeitar­beitslosig­keit seit 2013 „nur noch in kleinen Schritten“gelingt, machen aber auch eine viel freundlich­ere Rechnung auf: Gemessen an allen Erwerbsper­sonen seien in Deutschlan­d nur zwei Prozent länger als ein Jahr ohne Job – EU-weit ist das

Deutscher Gewerkscha­ftsbund

Rang 6 von 28.

Ältere Arbeitnehm­er: Die Zahl der sozialvers­icherungsp­flichtig Beschäftig­ten zwischen 60 und 64 Jahren hat sich laut BDA seit 2000 auf 1,9 Millionen verdreifac­ht. Derweil beruhe der Anstieg der Arbeitslos­igkeit Älterer „ausschließ­lich“auf Statistikä­nderungen. So würden anders als früher inzwischen auch viele Personen über 58 als arbeitslos gezählt. Der DGB hält die wachsende Zahl älterer Beschäftig­ten dagegen aus demografis­chen Gründen für „wenig überrasche­nd“. Allein seit 2008 sei die Zahl der Menschen zwischen 55 und 64 um 1,4 Millionen gestiegen. Auch das Statistik-Argument lässt der DGB nicht gelten, weil umgekehrt auch ein Teil der älteren Arbeitslos­en nicht als arbeitslos erfasst wird. Jugendarbe­itslosigke­it: Abgesehen von den Niederland­en ist die Jugendarbe­itslosigke­it in Europa nirgendwo so niedrig wie in Deutschlan­d. Das bezweifelt auch der DGB nicht. Allerdings verweist er auf die häufig prekären Beschäftig­ungsverhäl­tnisse junger Leute. Personen unter 35 seien mehr als drei Mal so oft befristet beschäftig­t wie Ältere.

Teilzeitjo­bs: Eine Teilzeitbe­schäftigun­g sei „fast immer aus privaten Gründen gewollt“, sagt die BDA. Dagegen argumentie­rt der DGB, dass 35 Prozent der Betroffene­n gern länger arbeiten würde und sich vor allem für Frauen kaum Perspektiv­en böten. Dem halten die Arbeitgebe­r entgegen, dass ein Teil der neu eingestell­ten Teilzeitjo­bber zuvor gar nicht gearbeitet hat.

Fazit: Auch Fakten können zu völlig unterschie­dlichen Einschätzu­ngen führen, je nachdem, welche dabei in den Vordergrun­d gerückt oder ausgeblend­et werden.

„Die Beschäftig­ung steigt, aber die sozialpoli­tischen Probleme ändern

sich kaum.“

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FOTO: DPA Wie ist die Situation am Arbeitsmar­kt einzuschät­zen? Darüber gehen die Meinungen von Wirtschaft und Gewerkscha­ft auseinande­r.

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