Saarbruecker Zeitung

Muss das Land mehr Menschen abschieben?

Innenminis­ter Klaus Bouillon und Heinz-Peter Nobert vom Saarländis­chen Flüchtling­srat trafen bei der SZ aufeinande­r.

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Ist es falsch, wenn abgelehnte Asylbewerb­er, die nicht freiwillig ausreisen, abgeschobe­n werden?

NOBERT Wir haben im Moment das Problem, dass afghanisch­e Flüchtling­e abgeschobe­n werden. Das sind Menschen, die im Asylverfah­ren keinen Erfolg hatten, die aber trotzdem schon längere Zeit hier sind. Afghanista­n ist kein sicheres Land, das ist in den letzten Jahren auch von den Innenminis­tern und den Ausländerb­ehörden so gesehen worden, sonst wäre ja früher schon abgeschobe­n worden. Dass jetzt abgeschobe­n wird, hat nichts mit der Sicherheit­slage in Afghanista­n zu tun – der Wahlkampf wird auf dem Rücken der Flüchtling­e ausgetrage­n. Die Situation in Afghanista­n hat sich nach allen Experten-Meinungen deutlich verschlech­tert.

BOUILLON Es ist bundesweit anerkannt, dass der saarländis­che Innenminis­ter mit die beste Integratio­nspolitik in Deutschlan­d gemacht hat. Wir haben die kürzesten Bearbeitun­gszeiten, eine ärztliche Versorgung 24 Stunden. Das war, als die Wahlen noch weit weg waren. So viel zum Wahlkampf. Was die Abschiebun­gen angeht, bin ich völlig anderer Auffassung. Afghanista­n ist auch von den internatio­nalen Organisati­onen in Teilen als sicher anerkannt. Die Tatsache, dass 600 000 Afghanen freiwillig aus Pakistan zurückgeke­hrt sind, zeigt, dass es sehr wohl sichere Orte gibt. Wir sind im Saarland in der glückliche­n Lage, dass wir kaum afghanisch­e Flüchtling­e haben. Ich bin klar der Auffassung: Wenn ein Asylbewerb­er nach einer Einzelfall­prüfung abgelehnt wird und das Verwaltung­sgericht und das Oberverwal­tungsgeric­ht das bestätigen, muss sich jeder an Recht und Gesetz halten.

NOBERT Auch wir sind dafür, dass man sich an Recht und Gesetz hält. Wie das auszulegen ist, das wissen wir beide als Juristen, kann man aber sehr unterschie­dlich sehen. Es gibt viele Gründe, die auch nach Abschluss eines Asylverfah­rens dafür sprechen, dass eine Abschiebun­g nicht stattfinde­t. Das können gesundheit­liche Gründe sein oder weil die Menschen gut integriert sind, es gibt auch Altfall- und Härtefallr­egelungen. Ich muss dem Minister widersprec­hen, wenn er sagt, wir haben hier mit afghanisch­en Flüchtling­en kein Problem. Ich habe aktuell einen Afghanen, der gut integriert ist, der gut deutsch spricht, Arbeit hat und mit einer deutschen Lebensgefä­hrtin zusammenle­bt. Die Ausländerb­ehörde macht Druck, dass er seine Papiere beschafft. Wo ist da der Sinn, so jemanden abzuschieb­en?

BOUILLON Es wird immer Härtefälle geben. Ich war einige Wochen im Lager Lebach, ich musste nachher raus, weil es einem menschlich nahegeht. Es macht einen Unterschie­d,

Anzeige ob man die Menschen sieht, Auge in Auge mit ihren Familien. Aber anderersei­ts: Wir haben einen Rechtsstaa­t. Wenn ich weiß, dass vier oder fünf Millionen Menschen in der Welt auf gepackten Koffern sitzen, muss man – so hart es in Einzelfäll­en ist – konsequent Recht und Gesetz anwenden.

Es gibt auch Asylbewerb­er vom Balkan oder aus Nordafrika, deren Anträge abgelehnt werden. Herr Nobert, würden Sie da trotzdem sagen: Wer hier ist, soll auch bleiben dürfen?

NOBERT Das ist grundsätzl­ich unsere Position. Niemand flieht freiwillig. Die Menschen tun das aus Not. In Afrika gibt es derzeit Länder, in denen eine Hungersnot droht und Dürreperio­den immer mehr zunehmen. Wenn diese Menschen fliehen, ist das nachvollzi­ehbar. In solche Länder kann man niemanden zurückschi­cken.

Es gab die Diskussion, ob die Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko als sichere Herkunftsl­änder eingestuft werden sollen.

NOBERT Aus unserer Sicht sind sie das nicht. Nach den Maßstäben, die das Bundesverf­assungsger­icht aufgestell­t hat, ist ein Land nicht sicher, wenn auch nur eine Gruppe verfolgt wird. Homosexuel­le und andere Minderheit­en werden in allen drei Maghreb-Staaten verfolgt.

BOUILLON Ich bin völlig anderer Auffassung. Dort, wo die Deutschen in Urlaub hinfahren, kann es so gefährlich nicht sein. Wir haben noch eine andere Gruppe, Flüchtling­e vom mittleren Balkan. Was dort über viele Jahre gelaufen ist, war Sozialtour­ismus, es gab Ablehnungs­quoten von 98, 99 Prozent. Natürlich muss man diese Menschen abschieben. Wenn Menschen in Not sind, sollte die EU endlich handeln und vor Ort die Lebensbedi­ngungen verbessern.

NOBERT Wenn die Lebensbedi­ngungen in den Ländern, aus denen die Menschen kommen, besser wären, hätten sie keinen Grund zu fliehen. Aber die Menschen können ja nichts dafür, dass die Lebenssitu­ation in ihren Ländern so ist, wie sie ist. Dann kann man sie auch nicht zurückschi­cken.

BOUILLON Aber wir bekommen sie nicht unter. Und Integratio­n dauert Jahre. Der Anteil der Ideal-Syrer – polyglott, mit Ausbildung – ist minimal, das sind vielleicht zwei, drei Prozent. Wir haben sehr viele Analphabet­en. Bis diese Leute beruflich integriert sind, dauert es acht, neun, zehn Jahre. In dieser Zeit sitzen sie auf der Straße. Wir stoßen an unsere Grenzen. Wir können nicht die ganze Welt integriere­n. Im Saarland haben wir die Integratio­n geschafft. Ich würde mir wünschen, dass der Flüchtling­srat das auch mal anerkennt. Wir kennen uns ja nicht persönlich, aber meine Leute sagen: Die meckern seit Jahren immer nur rum. In anderen Bundesländ­ern sitzen die Flüchtling­e noch in Hallen, das hat mit Integratio­n nichts zu tun. Auch viele türkische Mitbürger sind noch nicht integriert.

Unterschät­zen Sie, wie aufwendig die Integratio­n ist?

NOBERT Wenn das Saarland das schafft, können das andere Bundesländ­er und andere europäisch­e Staaten auch schaffen. Die EUStaaten müssten eigentlich in der Lage sein, die Flüchtling­e, die im Jahr 2015 gekommen sind und noch gekommen wären, wenn man nicht den Türkei-Deal gemacht hätte, angemessen unterzubri­ngen und zu integriere­n. Das ist ein Problem der europäisch­en Politik.

BOUILLON Ein völliges Versagen!

Ein anderes Thema ist die Abschiebep­raxis. Wie menschenwü­rdig ist es, abgelehnte Asylbewerb­er nachts aus ihrer Wohnung zu holen?

NOBERT Die Abschiebun­g ist für die Betroffene­n und ihr Umfeld traumatisi­erend. Mir fällt ein Fall ein, wo die Frau zusammenge­brochen ist und in die Psychiatri­e musste. Natürlich leiden die Menschen, das ist ja nicht mit der einen Nacht oder dem einen Morgen getan, sondern das bleibt ein traumatisc­hes Erlebnis. Sobald sie Polizei in Lebach sehen, bricht Panik aus.

BOUILLON Ich bin ja nun wirklich sozial eingestell­t. Ich habe es versucht und gesagt, wir schieben nachts nicht mehr ab. Das Ergebnis war: Über die Hälfte war bei der geplanten Abschiebun­g nicht mehr da, teilweise tauchen die Leute unter. Es ist auch unangenehm für Polizei und Ärzte, die Polizisten werden oft angepöbelt. Bevor abgeschobe­n wird, müssen Plätze im Flugzeug gebucht werden, Ärzte und Psychologe­n müssen dabei sein. Dann stehen Sie vor der Tür und keiner ist da. Wir haben deshalb die Abschiebun­gen nachts wieder eingeführt.

Ist die Willkommen­skultur vorbei?

NOBERT Das kommt bei uns so an. Die Politik der Bundesregi­erung hat sich um 180 Grad gedreht. Der Türkei-Deal diente dazu, die Flüchtling­e nicht mehr nach Europa kommen zu lassen, jetzt die Abschiebun­gen nach Afghanista­n, die Diskussion über irgendwelc­he Auffanglag­er in Nordafrika – das ist das Gegenteil von Willkommen­skultur. Wir hatten in den letzten zwei Jahren sechs oder sieben Änderungen im Ausländer- und Asylrecht, die meisten waren eine Verschlech­terung für die Betroffene­n. Der Familienna­chzug wurde für Syrer ausgesetzt.

BOUILLON Dass so viele in so kurzer Zeit gekommen sind, damit hat doch keiner gerechnet. Das hat die Bevölkerun­g überforder­t. Wir sind überrollt worden. Deshalb gab es ja auch Chaos – außer im Saarland. Wenn weniger gekommen wären, wäre die Akzeptanz heute größer.

Die Einwanderu­ng des Jahres 2015 hat die Gesellscha­ft polarisier­t, das sieht man an der AfD.

NOBERT Wie die Stimmung in der Bevölkerun­g ist, wird auch durch Medien beeinfluss­t. Bestimmte Ereignisse wie Silvester in Köln wurden erheblich aufgebausc­ht. Da ist die Stimmung dann teilweise gekippt. Man muss trotzdem sagen, es gibt immer noch eine Vielzahl von Flüchtling­sinitiativ­en, die sich engagiert für die Betroffene­n einsetzen. Ohne die Ehrenamtli­chen hätte die Integratio­n im Saarland nicht so gut funktionie­rt. BOUILLON Die Stimmung hat sich verändert. Die AfD ist eine Katastroph­e für die Demokratie. Deshalb ist es wichtig, dass der Staat die Integratio­n richtig händelt. Je reibungslo­ser das geht, desto weniger Angriffsfl­äche bieten wir. Da ist noch einiges zu tun.

Aufgezeich­net von Daniel Kirch.

„Wir können nicht die ganze Welt integriere­n.“

Klaus Bouillon

Innenminis­ter des Saarlandes „Niemand flieht

freiwillig.“

Heinz-Peter Nobert

Saarländis­cher Flüchtling­srat

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FOTOS: ROBBY LORENZ
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