Saarbruecker Zeitung

Was hinter Erdogans Wut steckt

Viele Türken wollen dem Präsidials­ystem am 16. April partout nicht zustimmen.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ANKARA Auf den ersten Blick läuft alles wie geschmiert für den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan. Seine Wahlkampfa­uftritte vor der Volksabsti­mmung über das Präsidials­ystem am 16. April ziehen Zehntausen­de begeistert­e Zuschauer an, mit NaziVergle­ichen geht er verbal auf europäisch­e Politiker wie Angela Merkel los, und die zu überwiegen­den Teilen regierungs­treuen Medien in der Türkei singen Loblieder auf den Präsidente­n. Und doch gibt es in Erdogans Partei AKP wachsende Zweifel. Offenbar wollen viele Türken trotz Sympathie für Erdogan dem Präsidialp­lan partout nicht zustimmen.

Regierungs­nahe Institute berichten von einer Mehrheit von bis zu 57 Prozent für Erdogans Plan, während andere Demoskopen von einem Sieg des Nein-Lagers ausgehen. Fest steht, dass die AKP und die mit ihr verbündete Führung der Partei MHP nicht auf alle ihre Wähler zählen können: Bei der Parlaments­wahl im November 2015 waren die beiden Parteien zusammen auf mehr als 60 Prozent der Stimmen gekommen.

Eine Analyse des für seine engen Kontakte zur Regierung bekannten „Hürriyet“-Kolumniste­n Abdülkadir Selvi weist darauf hin, dass diese Einschätzu­ngen mehr sind als nur Wunschdenk­en der Erdogan-Gegner. AKP-Strategen wollen laut Selvi die Frage untersuche­n, warum so viele Wähler bisher nicht zu überzeugen waren. Das Schlagwort vom „EinMann-Staat“spielt bei diesem Zögern offenbar eine große Rolle.

Auch ist die AKP nicht geschlosse­n. Ex-Präsident Abdullah Gül und der ehemalige Ministerpr­äsident Ahmet Davutoglu blieben jetzt demonstrat­iv einer Einladung von Premier Binali Yildirim fern. Gül und Davutoglu sind als Gegner des Präsidials­ystems bekannt. Bei der MHP sorgen sich viele, dass ihre Partei in einem Präsidials­ystem in der Bedeutungs­losigkeit versinken würde.

Ein weiteres Problem für die AKP liegt darin, dass die Entlassung­sund Festnahmew­ellen seit dem Putschvers­uch auch viele ehemalige Erdogan-Wähler oder deren Familien getroffen haben. Hinzu kommen Wirtschaft­sprobleme wie die Krise im Fremdenver­kehr und eine Arbeitslos­igkeitsrat­e, die einen Sieben-JahresHöch­ststand erreicht hat.

In dieser Lage sollen Erdogans scharfe Attacken gegen die Europäer dazu beitragen, die AKPWähler bei der Stange zu halten. Auch der Plan einer Wahlkampfr­eise des Präsidente­n nach Deutschlan­d dient diesem Ziel. Die Erdogan-kritische Nationalis­tenzeitung „Sözcü“will erfahren haben, dass der Präsident noch mehr vorhat. Erdogan werde möglicherw­eise noch vor dem 16. April die Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee umwandeln, wie das von Nationalis­ten und Islamisten seit vielen Jahren gefordert wird. Ein solcher Schritt wäre gleichzeit­ig eine symbolisch­e Abkehr der Türkei vom Westen.

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