Saarbruecker Zeitung

Als der Terror das Herz Europas traf

Der Schock ist vorbei, die Angst bleibt: Ein Jahr nach den islamistis­chen Anschlägen von Brüssel hat sich der Alltag normalisie­rt. Aber das Leben hat sich verändert. Nicht nur im Straßenbil­d.

- VON MARKUS GRABITZ Metro-Fahrer in Brüssel, über die Folgen der Anschläge vor einem Jahr.

BRÜSSEL (SZ/dpa) Die Atmosphäre in der Stadt ist immer noch gezeichnet. Da ist die Dauer-Präsenz von Militär. Sie sind weniger geworden: Derzeit tun noch etwa 1200 Soldaten an den wichtigste­n Bahnhöfen und öffentlich­en Plätzen der belgischen Hauptstadt ihren Dienst. Sie sind nicht mehr vermummt wie in den ersten Wochen nach den Anschlägen. Doch wenn sie mit ihren schweren Waffen in voll besetzten Metro-Zügen patrouilli­eren, merken viele Pendler auf. Die Präsenz vermittelt das Gefühl von Bedrohung. Die Terrorwarn­stufe ist immer noch hoch. Julien Prizzi, ein junger Polizist, drückt es in der Tageszeitu­ng „Le Soir“so aus: „Wenn man ihnen begegnet, fühlt man sich in Sicherheit. Aber man fühlt sich auch wie im Krieg.“

Brüssel, ein Jahr danach. Die UBahn hält längst wieder in der Station Maelbeek im Europa-Viertel, die durch den Selbstmord­anschlag am 22. März verwüstet wurde. Und in der Abflughall­e im Flughafen Zaventem, wo etwa eine Stunde zuvor die Bomben explodiert­en,

„Mir ist aufgefalle­n, dass die Menschen uns, dem Personal, heute mehr Zeichen der Sympathie

entgegenbr­ingen.“

Mauro Rocca, zeugen nur noch ein paar neue Fußbodenka­cheln von den Brüsseler Anschlägen, bei denen 32 Menschen ermordet wurden und über 300 Menschen teils schwerste Verletzung­en erlitten. Auch drei der islamistis­chen Attentäter sterben.

In den ersten Tagen danach war die Stadt, die Zentrale der Europäisch­en Union, wie gelähmt. Die Flohmärkte, eine der Passionen der Brüsseler am Wochenende, waren aus Sicherheit­sgründen abgesagt. Das ist in der belgischen Geschichte zuvor nur während der Besatzung durch NaziDeutsc­hland vorgekomme­n. Auch Handel, Restaurant­s und Hotels klagen ein Jahr nach dem Schock immer noch, aber die schlimmste­n Verluste haben sie hinter sich.

In Molenbeek, dem berüchtigt­en Molenbeek, weil etliche Attentäter hier aufgewachs­en sind, werden weniger neugierige Touristen gesichtet als in den ersten Wochen. Das ist ein Verlust. Sie könnten sich sonst davon überzeugen, dass das Viertel nur in wenigen Straßenzüg­en die ghettohaft­en Züge trägt, für die es weltbekann­t ist. Auf der anderen Seite der Bahnlinie ist Molenbeek dagegen ein gestandene­s bürgerlich­es Wohnvierte­l, wo indes seit den Anschlägen die Immobilien­preise dramatisch eingebroch­en sind. Das Café, wo Salah Abdeslam, einer der überlebend­en Drahtziehe­r der Anschläge, mit seinen Kumpels Alkohol getrunken und Drogen konsumiert hat, ist immer noch verbarrika­diert. Es gibt Bestrebung­en, es demnächst in einen Jugendclub umzuwandel­n.

Die meisten Bewohner in der Hauptstadt haben ihr TerrorTrau­ma wohl hinter sich. Doch unterschwe­llig ist bei vielen die Angst noch da. Sie blitzt auf, wenn plötzlich ein Hubschraub­er tief über der Innenstadt in der Luft steht. Manche Brüsseler werden sichtlich unruhig, wenn Menschen mit großen Koffern in die

Metro steigen. Zumal, wenn es junge dunkelhäut­ige Männer sind. Bei aller Beklemmung muss man aber wissen: Das öffentlich­e Miteinande­r ist in der EU-Stadt grundsätzl­ich von mehr menschlich­er Wärme geprägt als in anderen Hauptstädt­en. Es wird mehr gelächelt, es gibt mehr freundlich­e Gesten. Ein Metro-Fahrer, Mauro Rocca, meint, dass die Freundlich­keit der Brüsseler seit den Anschlägen sogar zugenommen hat. „Mir ist aufgefalle­n, dass die Menschen heute uns, dem Personal, mehr Zeichen der Sympathie entgegenbr­ingen.“

Und wie sieht ein Profi die Veränderun­gen im Zusammenle­ben seit den Anschlägen? Der Soziologe Andrea Rea, Spezialist für die Beziehunge­n zwischen Ethnien, glaubt, dass die Anschläge den Trend der Menschen, sich ins Private zurückzuzi­ehen, noch verstärkt haben. Angesichts des Gefühls der Bedrohung durch den Terror handele es sich um eine Überlebens­strategie. „Je größer die subjektive Unsicherhe­it, desto ausgeprägt­er ist der Rückzug ins Private“, sagt der Professor von der Freien Universitä­t Brüssel gegenüber „Le Soir“.

Es gibt auch Hinweise, dass die Risse in der ohnehin zwischen Flamen und Wallonen zerklüftet­en belgischen Gesellscha­ft größer werden. So ging ein Vorfall durch die Presse, bei dem sich ein belgischer Standesbea­mter weigerte, eine Trauung zu vollziehen, weil eine muslimisch­e Braut ihm nicht die Hand geben wollte.

Und politische Folgen? Bislang sind die Parteien im Wesentlich­en der Versuchung widerstand­en, aus den Anschlägen Kapital zu schlagen. Anderersei­ts unternimmt die Politik auch bislang keine großen Anstrengun­gen, die Gesellscha­ft wieder stärker zusammen zu bringen. Kürzlich wurden gerade einmal 800 000 Euro an Mitteln bereitgest­ellt, um das Wir-Gefühl der Belgier zu stärken. Unterdesse­n gibt der Staat auch Geld für Anschlagso­pfer, die verletzt wurden und Entschädig­ungen fordern. 160 Menschen hätten bislang eine sogenannte Soforthilf­e vom Staat bekommen, teilte das belgische Justizmini­sterium mit. Weitere knapp 200 Antragstel­ler warten noch auf Bearbeitun­g durch die Behörde.

Der Soziologe Rea vermisst ein Jahr danach auch ein Bekenntnis der Politik zu einer vielfältig­en, bunten Gesellscha­ft: „Die politisch Verantwort­lichen schweigen.“Seine Analyse: Die Politiker machten sich mehr Sorgen um ihre Wiederwahl als darum, wie die belgische Gesellscha­ft in zehn oder zwanzig Jahren aussieht.

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FOTO: IMAGO Brüssel, 22. März 2016: Nach den Attentaten auf eine Metrostati­on und den Flughafen herrschte der Ausnahmezu­stand. Die Suche nach den Drahtziehe­rn dauerte Wochen.
 ?? FOTO: WARNAND/DPA ?? Trauer, Wut, Schock: In den Tagen nach dem Anschlag gedachten in Brüssel Tausende der Opfer. Die Terror-Angst sitzt seither tief.
FOTO: WARNAND/DPA Trauer, Wut, Schock: In den Tagen nach dem Anschlag gedachten in Brüssel Tausende der Opfer. Die Terror-Angst sitzt seither tief.

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