Saarbruecker Zeitung

Auch Thomas Manns Sehnsuchts­land

Litauen ist Gastland der gestern eröffneten Leipziger Buchmesse. Ein Blick auf seine Geschichte und Bücher von dort.

- VON ROLAND MISCHKE

SAARBRÜCKE­N Litauen, Gast der Leipziger Buchmesse, war ein offenes Land, Toleranz selbstvers­tändlich. Ritter des Deutschen Ordens durften sich vor rund 600 Jahren ansiedeln, aber ohne Waffen. Juden waren willkommen, Christen gleich welcher Konfession ebenso. Sie durften ihre Religion ausüben, jedoch nicht missionier­en. Die Hauptstadt Vilnius galt als litauische­s Jerusalem. Am Ostra Brama, dem Tor der Morgenröte, wurden erschöpfte Zugewander­te, die Schutz suchten, empfangen. Viele blieben und wurden Litauer.

Als immer mehr Russen von Osten her eindrängte­n, kam es zu Verwerfung­en. Nach Lenins Revolution 1917 und am schlimmste­n unter Stalin legte sich die Angst wie eine dunkle Wolke über das Land. Noch mehr setzten die Nazis den Menschen zu, bald nach Kriegsbegi­nn war der Terror allgegenwä­rtig. „Es schleichen / Drohung und Stahl mitten / durchs Herz von Europa“, wie der Dichter Henrykas Nagys diese Zeit im Baltikum beschrieb.

Litauen, ein Satelliten­staat der Sowjets, seit 1990 unabhängig, hat knapp drei Millionen Einwohner. Die Literatur, vor allem die Poesie, hat in dem Land eine weit zurückreic­hende Tradition. In Leipzig werden nun anlässlich der Buchmesse mehrere litauische Autoren auftreten. Die Direktorin des Litauische­n Kulturinst­ituts in Vilnius,

Ausrine Zillinskie­ne, reist mit 26 Büchern an; bis zu vier Bücher werden pro Jahr ins Deutsche übersetzt. Für die Autoren ist das wichtig, auch finanziell, kaum einer kann vom Schreiben leben. Bei der Messe und rund 50 Veranstalt­ungen können sie ihr literarisc­hes

Talent zeigen. Eine seltene Gelegenhei­t. Das Litauische gehört zu den Sprachen, die sich im Laufe der Jahrhunder­te nur minimal veränderte­n. Es hat keine Ähnlichkei­t mit den slawischen Sprachen in den Ländern ringsumher. Litauen ist umgeben von der russischen Oblast Kaliningra­d, Weißrussla­nd, Lettland und Polen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Litauen das Land, das am erbitterst­en gegen die sowjetisch­e Annexion kämpfte. Die Partisanen, „Waldbrüder“genannt, versteckte­n sich in den Wäldern, der letzte von ihnen wurde 1965 exekutiert.

Im Krieg hatten die Nazis die Juden, 30 Prozent der Bevölkerun­g, fast komplett ausgerotte­t. Bei Massenersc­hießungen verloren 200 000 litauische Juden ihr Leben. Das Trauma hält noch an, die meisten litauische­n Familien mussten Opfer beklagen. Erst seit der Unabhängig­keit findet eine historisch­e Aufarbeitu­ng der Untaten statt – und eine literarisc­he: Laurinus Katkus’ „Moskauer Pelmeni“(Leipziger Literaturv­erlag, 120 Seiten, 12,95 erzählt von einer Jugend unter russischer Vorherrsch­aft und dem Gefühl der Freiheit nach dem Abzug der Russen und der Entwicklun­g einer neuen Identität.

Giedra Radvilavic­iute erinnert sich in im Roman „Der lange Spaziergan­g auf einer kurzen Mole“(Corso, 144 S., 19 an Unrechttat­en in der Besatzungs­zeit und der erschrecke­nden Empfindung, „dass ein Mensch früher zu leben aufhört, als er stirbt“. Eugenijus Alisanka, mit seinen Eltern nach Sibirien verbannt, berichtet autobiogra­fisch und in großartige­r Sprache in „Risse“, einem Essayband (Klak, 272 Seiten, 16,90 von der Demütigung. Die Kunsthisto­rikerin Undiné Radzeviciu­te beschreibt in „Fische und Drachen“(Residenz, 400 Seiten, 24 was Okkupation, Repression und Patriotism­us bei Menschen anrichten. Eine wunderbare Geschichte, in mehrere Sprachen übersetzt.

Die litauische ist mit der deutschen Literatur verbunden, ein Teil des Landes gehörte einige Zeit zu Preußen. Johannes Bobrowski, ein poetisches Schwergewi­cht, kam aus Willkischk­en, heute Vilkyskiai. Dort, mitten in der Provinz, haben die Litauer ein Bobrowski-Museum eingericht­et. In Nida auf der Kurischen Nehrung verbrachte Thomas Mann drei Sommer, das Haus – heute musealisie­rt – erwarb er, nachdem er den Literaturn­obelpreis erhalten hatte. Für ihn und Bobrowski war Litauen ein Sehnsuchts­land.

 ?? FOTO: DPA ?? Litauens Hauptstadt Vilnius, die einst als „litauische­s Jerusalem“galt. 2009 war sie die Kulturhaup­tstadt Europas.
FOTO: DPA Litauens Hauptstadt Vilnius, die einst als „litauische­s Jerusalem“galt. 2009 war sie die Kulturhaup­tstadt Europas.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany