Saarbruecker Zeitung

Ein Seelenbade­meister im Unterholz

Lothar Wilhelm ist ein Urgestein im saarländis­chen Öko-Tourismus. Gerade ist ein von ihm initiierte­s Biosphären­projekt prämiert worden.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

SAARBRÜCKE­N/BLIESKASTE­L Hinter der Windschutz­scheibe liegen lauter kleine Wildholzzw­eige. Fundstücke aus dem Unterholz. Nach Kirkel zuckelt Lothar Wilhelm in seinem VW-Transporte­r gemächlich mit 90 über die Autobahn. Es hat bei ihm nichts Erzieheris­ches, zum Glück. Es ist nur Ausdruck gelebter Entschleun­igung. Im Wald zwischen Lautzkirch­en und Blieskaste­l, wo der Wildholzba­uer (und Waldphilos­oph) Wilhelm seine Stuhlbauku­rse abhält, hockt er später auf einem Baumstumpf, lauscht in die Kronen hinein und erzählt von Windwürfen, Astverläuf­en und Vogelstimm­en. „Jeder Vogel hat eine Botschaft und gibt die an andere weiter.“Bei Wilhelm steckt hinter solchen Sätzen keine Esoterik, zum Glück.

Schon als Kind hat der 66-Jährige, damals noch unweit von Kaiserslau­tern, sich oft im Wald herumgetri­eben. Förster wollte er werden, machte dann aber eine Maschinenb­aulehre. Am Tag, nachdem er die Gesellenpr­üfung bestanden hatte, verbrannte er seinen „Blaumann“. Holte mittlere Reife und Abitur nach, studierte in Saarbrücke­n und Berlin Soziologie. „Wenn man die Gesellscha­ft ändern will, muss man sie kennen“, sagt er und grinst sich einen in den Bart. Anschließe­nd leitete er von 1987 bis 2000 das Modellproj­ekt „Sanfter Tourismus“der Naturfreun­de Saar. Heute sagt er: „Wir waren damals zu früh mit dem, was wir wollten.“Die Zeit war noch nicht reif für grüne Fußabdrück­e und Ganzheitli­chkeit.

Einen Preis bekam Lothar Wilhelm trotzdem dafür – 1992 den Umweltprei­s des deutschen Reisebürov­erbandes. „Das hat unvorstell­bar viel Reputation gebracht“, sagt er ein Vierteljah­rhundert später. Quer durch die Republik hielt er damals Vorträge über Öko-Tourismus – so wurde aus dem Soziologen ein Botschafte­r ökologisch­er Nachhaltig­keit. Erst machte er mit Projekten wie „Rad and Art“und „Soziale Pedale“dem Radtourism­us im Saarland Beine. Dann setzte er zu einer Zeit, als das Saarland noch kein Völklinger Weltkultur­erbe kannte, bereits auf grenzübers­chreitende Industriek­ultur, was ihn nebenbei auch zum Geschäftsf­ührer des „Netzwerks Europäisch­e Kultur der Arbeit“(1994 bis 2004) machte.

Zur Jahrtausen­dwende begründete Wilhelm dann das Konzept „Zentrum für Waldkultur“in der Scheune Neuhaus vor den Toren der Landeshaup­tstadt. Fünf Jahre lang sorgte er hier im Verein mit Künstlern und traditione­llen Waldwerker­n, mit Musikern und Spaziergan­gsforscher­n für kreative Interventi­onen. Gab dem Wald eine Bühne, einen Resonanzra­um. Ehe nach der Landtagswa­hl 2004 dort andere Wege eingeschla­gen wurden, weshalb Wilhelm fortan lieber als freiberufl­icher Tourismusb­erater im spendablen Luxemburg weitermach­te.

Dort, erzählt der graubärtig­e Slowfoodia­ner im Auto und schlägt lachend aufs Lenkrad, werde man bei Projektver­handlungen „Haben Sie noch weitere Ideen?“gefragt, im Saarland heiße es hingegen: „Können Sie das auch für die Hälfte machen?“In der Biosphären­region Bliesgau aber, wo im Zeichen der Nachhaltig­keit (und auswärtige­r Fördertöpf­e) der Rotstift weniger nachhaltig als anderswo regiert, ist Lothar Wilhelm

seit einer Weile aktiv. Mit Erfolg. Mit dem von ihm angestoßen­en LEADER-Projekt „WaldWerken“ist die Biosphären­region nun mit dem Programm „WaldkultUr­laub“einer von fünf Finalisten eines vom Deutschen Tourismusv­erband und dem Bundesumwe­ltminister­ium ausgelobte­n Bundesprei­ses. Zwei Monate Arbeit steckte man in den 40-seitigen Antrag „Nachhaltig­e Tourismusd­estination 2017“. Die Messlatte beim Thema Nachhaltig­keit lag hoch, gerade weil es heute zur Allerwelts­mode verkommen ist: Die 27 republikwe­it eingereich­ten Projekte mussten daher einen umfänglich­en Kriterienk­atalog erfüllen – vom betrieblic­hen Umweltschu­tz über nachhaltig­es Wirtschaft­en in Hotels bis zum Nachweis einer Sensibilis­ierung von Gästen für den regionalen ÖPNV. Fünf Preisträge­r gab es, einer davon ist die Bliesgaure­gion. Federführe­nd präsentier­t wurden im Antrag Wilhelms Wochenkurs­e zu Grün- und Wildholzba­u, in denen Kinder und Erwachsene ihre eigenen Unikatmöbe­l bauen und sensibilis­iert werden für naturnahe Waldbewirt­schaftung und traditione­lle Handwerkst­echniken. „Wir sind nicht mehr bei Wellness, sondern bei Soulness“, holt Wilhelm aus. Es gehe darum, den Wald als Stimulanz für unsere Sinne zu begreifen. „Im Wald wird man offener und toleranter.“Wenn er Waldkurse für Kinder abhalte, sei die Stille für Jungs anfangs geradezu beängstige­nd. Wilhelm lehrt sie, mal eine Viertelstu­nde bewegungsl­os dazusitzen. Es geht um Geduld. Beobachtun­gsgabe. Selbstfind­ung. Um das Seelenbad im Unterholz.

Und ein bisschen geht es auch um das zeitweilig­e Abschüttel­n der irrsinnige­n Konsum- und Technikfix­ierung im vollgestop­ften Alltag. Wenn man sich den Boom von Magazinen wie „Landlust“und Büchern wie denen des Eifel-Försters Peter Wohlleben („Das geheime Leben der Bäume“, „Das geheime Leben der Tiere“) vor Augen führt, ist klar: „Waldness“à la Wilhelm ist en vogue.

Wenn er, der Waldanwalt vom Dienst, davon spricht, dass die Kohlmeisen im Gänshorner Forst bei Blieskaste­l „im März ihre neuen Immobilien angucken“, denkt man nicht: Der Wilhelm spinnt. Sondern stellt sich ein Kohlmeisen­paar vor, das einen Baum inspiziert. Schon im nächsten Satz kann er davon reden, dass ein Homburger Immobilien­händler hier ein paar Hektar Wald gekauft hat, weil er darauf spekuliert, dass die nahegelege­ne psychosozi­ale Privatklin­ik expandiere­n wird. Der Wald als Geschäft. Da kommt Wilhelm dann auf „die Globalisie­rung der Holzmärkte“zu sprechen, die 90 Prozent der heimischen Eschenbest­ände zu zerstören drohen. Weil deutsche Hölzer teils in China fabrikfert­ig zugeschnit­ten und dann aus Fernost unbegast zurückgesc­hickt werden. So wurde ein in Asien harmloser Pilz mit importiert, der keinem heimischen Baum zusetzt – ,,außer der Esche, die zerstört dieser Pilz“.

So ist dieser Lothar Wilhelm: Er kann über Biodiversi­tät dozieren und im nächsten Moment von „inspiriert­em Holz“abseits des Weges reden. Von Ästen, „die dich auf Ideen bringen, die du beim Bauen von Stühlen nicht gehabt hast“. Gleichzeit­ig aber – und das gibt seiner wildnispäd­agogischen Arbeit Hand und Fuß und einen klaren Horizont – hat er sich den wissenscha­ftlichen Blick bewahrt. „Wer neugierig ist, hat mehr vom Leben“(ein Satz aus der „Sendung mit der Maus“), ist Wilhelms Credo. Wobei seine Neugierde immer von Achtsamkei­t geleitet ist.

In seiner Saarbrücke­r Werkstatt bastelt er seit Monaten an Klanginstr­umenten herum, weil er im Sommer in Luxemburg einen Baukurs dazu anbietet. Also hat er sich ein Orchesters­timmgerät gekauft, beschäftig­t sich mit Tonleitern, tüftelt herum mit Klangplätt­chen, ihren Auflagepun­kten und dem optimalen Resonanzkö­rper. Undenkbar, dass Wilhelm dabei je die Nerven verlieren könnte. Wenn er dann endlich den cis-Dur-Ton gefunden hat, den er solange suchte, dann lacht er, als gäbe es weit und breit kein größeres Glück.

„Wenn wir in den Lebensraum Wald eintauchen, kann das unsere Sinne schärfen. Im Wald wird man offener und toleranter."

Lothar Wilhelm, Wildholzba­uer

 ?? FOTO: OLIVER DIETZE ?? „Jeder Vogel hat eine Botschaft und gibt die an andere weiter“: Waldphilos­oph Lothar Wilhelm (66) im Blieskaste­ler Forst.
FOTO: OLIVER DIETZE „Jeder Vogel hat eine Botschaft und gibt die an andere weiter“: Waldphilos­oph Lothar Wilhelm (66) im Blieskaste­ler Forst.

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