Saarbruecker Zeitung

Das Königreich reicht die Scheidung ein

Neun Monate nach dem Brexit-Votum sendet Großbritan­niens Premier May heute den offizielle­n Austritts-Brief an die EU. Danach tickt die Uhr – bis 2019.

- VON KATRIN PRIBYL

Es ist ein historisch­er Brief, den ein britischer Diplomat heute Ratspräsid­ent Donald Tusk in Brüssel überbringt. Absender: Premiermin­isterin Theresa May. Mit dem von ihr unterzeich­neten Schreiben beantragt die Regierungs­chefin formell den Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aus der EU. Und damit tickt zumindest theoretisc­h die Uhr. Artikel 50 des Lissaboner Vertrags bietet den Briten und den restlichen 27 Mitgliedst­aaten zwei Jahre Zeit, ein Prozedere für eine einvernehm­liche Scheidung zu finden. Die Verhandlun­gen könnten sich jedoch viel länger hinziehen, wie Diplomaten, Politiker und Experten schon jetzt prophezeie­n.

Es ist das erste Mal in der Geschichte der Staatengem­einschaft, dass ein Land die Scheidung einreicht und Verflechtu­ngen aus 40 Jahren zu entwirren, dürfte sich zu einer Herkulesau­fgabe entwickeln. Auch wenn die Brexit-Befürworte­r es kaum noch erwarten können, bis May das Verfahren auslöst. Die Briten stehen unter gehörigem Druck. Sie müssen wirtschaft­spolitisch­e Trennungsl­ösungen mit Brüssel aushandeln, sonst steht das Königreich handelspol­itisch vor einem Problem. Dass „kein Deal besser als ein schlechter Deal“sei, wie es in den vergangene­n Wochen aus Westminste­r hieß, sollte eine Warnung an Brüssel aussenden und Selbstbewu­sstsein fürs Volk ausstrahle­n.

Hinter den Kulissen rudert die Regierung aber bereits zurück. May weiß, dass kein Abkommen mit der EU schwere Auswirkung­en auf die Wirtschaft hätte. Ob sie weiterhin ihre kompromiss­lose Linie verfolgen wird, nach der Großbritan­nien sowohl aus der Zollunion austreten als auch die Mitgliedsc­haft im gemeinsame­n europäisch­en Binnenmark­t aufkündige­n würde, wird sich zeigen. Großbritan­nien befindet sich in einer schwachen Verhandlun­gsposition. Als einen der Trümpfe in der Hand betrachten einige Politiker zum Leidwesen der Betroffene­n die mehr als drei Millionen EU-Bürger im Königreich. May hatte zwar wiederholt erklärt, sie werde sich für einen Verbleib der auf der Insel lebenden Menschen aus anderen Mitgliedst­aaten einsetzen. Garantien lehnte sie jedoch ohne entspreche­nde Zusagen für im EU-Ausland wohnende Briten ab.

Das Thema treibt auch Martin Knight um. Seit elf Jahren leitet der 49-Jährige in High Wycombe, eine halbe Zugstunde von der Hauptstadt entfernt, sein Architekte­nbüro „Knight Architects“. Den Briten trifft der Brexit schwer. „Es ist äußerst wichtig, Menschen aus Europa hier zu haben“, sagt er und zeigt in das Großraumbü­ro, wo seine kreativen Köpfe sitzen. Darunter: zwei Deutsche, drei Spanier, zwei Franzosen, ein Italiener. Sie alle machen sich nun Sorgen um ihren künftigen Status im Königreich. „Es sind Menschen, die mir vertraut haben, und sie verdienen es, dass wir uns um sie kümmern“, sagt Knight, der sich seinen Mitarbeite­rn verpflicht­et fühlt – und sie schlichtwe­g nicht verlieren will.

Wie etliche Branchen, etwa der Bausektor, die Gastronomi­e oder das Gesundheit­swesen, ist auch Knight darauf angewiesen, „hochqualif­izierte Arbeitskrä­fte“aus Europa zu rekrutiere­n. Hinzu kommt, dass sich ein großer Teil des Geschäfts in der EU abspielt. Knight denkt darüber nach, bald eine Zweigstell­e auf dem Festland zu eröffnen. Und steht damit nicht alleine da. Die Wirtschaft­swelt hat Notfallplä­ne bereits in der Schublade, wie es heißt. „Wir können nicht warten, bis die Politik eine Entscheidu­ng trifft“, sagt Knight.

Entschiede­n werden muss nun auch, welche Zahlungen das Königreich noch leisten muss. Die EU besteht bislang darauf, dass London bereits eingegange­ne finanziell­e Verpflicht­ungen erfüllt. Hier geht es etwa um Pensionsza­hlungen für EU-Beamte oder zugesagte Beiträge für den Brüsseler Haushalt. Die Summe könnte sich auf bis zu 60 Milliarden Euro belaufen, heißt es. May und Außenminis­ter Boris Johnson haben solchen Forderunge­n bereits eine Absage erteilt. Mal sehen, ob es am Ende dabei bleibt.

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GRAFIK: LORENZ Alles andere als einer Sternstund­e der EU: Zum ersten Mal in der Geschichte verlässt ein Mitglied die europäisch­e Familie.
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FOTO: IMAGO Fest entschloss­en: Die britische Regierungs­chefin May setzt heute den Brexit offiziell in Gang.

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