Britannien sagt bye, bye
Das Vereinigte Königreich hat die Koffer gepackt und den Brexit eingereicht. Die EU trauert – und warnt.
BRÜSSEL
Ein paar Minuten lang spricht Donald Tusk von dem Brief aus London. Der EU-Ratspräsident entdeckt sogar etwas Positives in der wachsenden Geschlossenheit, die es nun zwischen den 27 EU-Mitgliedern gebe. Doch dann steht der Pole plötzlich da, lässt resigniert die Arme fallen und ergänzt: „Was soll ich noch sagen? Wir vermissen euch jetzt schon. Danke und Goodbye.“Knapp 30 Minuten vorher hat Tim Barrow, Londons EUBotschafter, den sechsseitigen Brief von Premierministerin Theresa May offiziell der EU übergeben. Alle wissen: Nun ist der Austrittsprozess in Gang – und kann nicht mehr gestoppt werden.
44 Jahre gehörte das Vereinigte Königreich zur Europäischen Union. In zwei Jahren, am 29. März 2019, wird die Mitgliedschaft Londons enden. „Das ist kein glücklicher Tag – weder in Brüssel noch anderswo“, sagt Tusk. Und setzt dann betont hinzu: „Wir bleiben zusammen.“Dennoch hätten der EU-Rat und die Kommission „ein striktes Mandat, das Interesse der 27 Mitgliedstaaten zu schützen.“Der Schock nach dem Brexit-Referendum, sogar die aufkommende Wut und Enttäuschung sind der Nüchternheit gewichen. Von Verbänden und Lobbyisten-Vertretungen, von den Parteipolitikern aus dem EU-Parlament hagelt es nahezu gleichlautende Appelle, „Großbritannien nicht zu bestrafen“. Man hat das Gefühl, der Trennungsschmerz überwiegt – zumindest an diesem Tag. Das fällt leicht, weil Mays Brief als „nicht unfreundlich“(so ein Kommissionsmitglied) empfunden wird. Niemand in Brüssel hatte erwartet, dass Großbritannien die errechneten finanziellen Verpflichtungen von geschätzten 60 Milliarden Euro gleich bezahlt. Aber die Zusage, eine gute Regelung für die EU-Bürger auf der Insel zu finden und die Bereitschaft, für beide faire Lösungen für alle Streitpunkte auszuarbeiten, gab dem Ausstiegsantrag dann noch eine fast schon versöhnliche Note.
Aber der Eindruck täuscht: Die EU der 27 hat die Reihen geschlossen und gibt sich kämpferisch. Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber warnte zum Beispiel bereits vor allzu großem Entgegenkommen: „Das Vereinigte Königreich mag zwar ein Mitgliedstaat mit Sonderrechten gewesen sein, es darf jedoch keinesfalls ein Nicht-Mitgliedstaat mit Sonderrechten werden.“
Am kommenden Freitag wollen Ratspräsident Tusk und der derzeitige EU-Vorsitzende, Maltas Premierminister Joseph Muscat, einen ersten Entwurf der Leitlinien vorstellen, die die 27 Staatsund Regierungschefs bei ihrem Sondergipfeltreffen am 29. April in Brüssel zum Brexit beschließen sollen. Im Kern dürfte es dabei um ein Existenzrecht für die etwa drei Millionen Bürger aus anderen EUStaaten gehen, die auf der Insel leben. Auch darum, wie Großbritannien seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen will. Mehr dürfte innerhalb der ersten zwei Verhandlungsjahre ohnehin kaum zu schaffen sein. „Für die EU beginnt an diesem Tag eine neue Zeitrechnung“, sagte ein hochrangiges Kommissionsmitglied gestern zur SZ. Und der Chef der europäischen Grünen, Reinhard Bütikofer, malte dazu ein düsteres Bild: „Die britische Premierministerin wird beim Brexit das gleiche Schicksal erleiden wie Goethes Zauberlehrling. Der Kräfte, die sie mit der Verfolgung des harten Kurses freisetzt, wird sie nicht Herr werden.“
Wie viel Zeit steht zur Verfügung? Der Vertrag lässt exakt zwei Jahre zu. Demnach würde das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 aus der Union ausscheiden. Tatsächlich werden es kaum mehr als 18 Monate sein, die bleiben. Denn noch ist nicht wirklich klar, wer ein Brexit-Abkommen noch ratifizieren muss. Sollte es ein Vertrag sein, der alle Politikbereiche umfasst, müssen – neben dem Unterhaus in London – auch die Parlamente der Mitgliedstaaten zustimmen. Es gibt Bestrebungen, dies zu verhindern – zumindest teilweise. Dazu könnten beide Partner eine Verlängerung beschließen. In Brüssel wird daran gedacht, besonders dringende Punkte wie Zuwanderung und „alte Rechnungen“vorzuziehen. Diese beiden Fragen könnte die EU möglicherweise auch im Alleingang beschließen.
Was muss denn eigentlich alles verhandelt werden?
Gegen das, was Briten und EU wieder trennen müssen, ist ein normales Scheidungsverfahren ein Klacks. Es geht um nicht weniger als 21 000 Gesetze. Wenn man annimmt, dass in 18 Monaten rund 500 Verhandlungstage zur Verfügung stehen, würde das bedeuten, dass man sich an jedem Tag über rund 40 Gesetze einig werden müsste. Dies ist unmöglich. Da scheint es sinnvoll, mit der Gütertrennung zu beginnen.
Könnte der Brexit noch gestoppt werden, etwa wenn in London eine neue Regierung ins Amt käme? Nein. Nach dem Antrag auf Austritt muss das Verfahren abgeschlossen werden. Viele Briten glauben ja immer noch, man könne gleich wieder eintreten, wenn sich nur die Stimmung ändert. Das ist nicht möglich. London würde dann wie ein normaler Beitrittskandidat behandelt und müsste alle Prüfungen durchlaufen – und käme erst nach den Kandidaten Serbien, Montenegro, Bosnien und Türkei dran.
Könnte Schottland – je nach Ausgang des Referendums – gleich in der EU bleiben?
Das erscheint rechtlich nicht möglich. Schottland ist Mitglied Großbritanniens und tritt deshalb mit aus. Die EU-Kommission kann keine Aufnahmeverhandlungen mit einem Land führen, das noch nicht autonom ist. Deshalb müssten die Schotten zunächst den Austritt aus dem Königreich beschließen, ehe sie in Brüssel vorstellig werden können.
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