Saarbruecker Zeitung

Zitternde Körper, Schaum vor dem Mund

Erneut wird ein Rebellenge­biet in Syrien von Giftgas getroffen. Experten sehen Hinweise für den Einsatz von Sarin. Die Zahl der Opfer geht in die Dutzende.

- VON JAN KUHLMANN

DAMASKUS (dpa) Die Bilder aus Syrien sind kaum zu ertragen. Sie zeigen Opfer eines Luftangrif­fs auf ein Rebellenge­biet, bei dem Giftgas eingesetzt worden sein soll. In einem Film liegen die Leichen von mehreren Kindern nebeneinan­der, fahle Gesichter mit halb geöffneten Mündern und starren Augen. Äußerliche Verletzung­en sind an ihnen nicht zu erkennen, jedenfalls nicht in dieser Sequenz. Auf einer anderen Aufnahme behandelt ein Helfer ein kleines Kind, vielleicht zwei Jahre alt, mit Sauerstoff, um sein Leben zu retten. Das Kind zittert am ganzen Körper.

Über Stunden kursierten gestern immer neue Opferzahle­n aus der Stadt Chan Scheichun im Nordwesten Syriens durch die sozialen Medien. Die als zuverlässi­g bekannte Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte zählte 58 Tote und Dutzende Verletzte, viele in ernstem Zustand. Andere Quellen meldeten sogar 100 Tote und 400 Verletzte. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht.

„Niemand weiß, wie viele Menschen getötet worden sind“, berichtet der Aktivist Abu Madschd al-Chani, der in der angegriffe­nen Stadt lebt. „Die Menschen können das Gebiet nicht ohne Masken erreichen, und wir haben keine Masken.“

Allerdings sprechen auch die Aufnahmen, die im Internet kursieren, dafür, dass es eine große Zahl von Opfern gab. Auf manchen Bildern liegen die Opfer verstreut auf der Straße. Andere zeigen Opfer mit weißem Schaum vor dem Mund. In einem Video weist ein Arzt mit einer Taschenlam­pe auf die stark verkleiner­ten Pupillen eines Opfers – für ihn ein klares Anzeichen für einen Angriff mit Giftgas.

Auch die große Zahl der Bilder von Opfern im Internet lässt kaum Zweifel zu, dass in Chan Scheichun tatsächlic­h Giftgas ausgeström­t ist. Israelisch­e Experten vermuten, dass bei dem Angriff das Nervengas Sarin eingesetzt wurde. „Wenn es wirklich Sarin war, bedeutet dies, dass weiterhin bedeutsame und hochgefähr­liche Bestände chemischer Waffen in Syrien versteckt werden“, sagt Danny Shoham vom Begin-SadatZentr­um für strategisc­he Studien.

Wer aber ist dafür verantwort­lich? Opposition­elle Aktivisten beschuldig­en die syrische Luftwaffe. Die Menschenre­chtler machen dazu keine Angaben. Und Syriens Armee selbst weist den Vorwurf zurück. Die syrische Armee besitze überhaupt keine Chemiewaff­en mehr, sagt ein General der Regierungs­streitkräf­te.

Doch es wäre nicht das erste Mal, dass Syriens Armee in dem sechsjähri­gen Bürgerkrie­g Giftgas benutzt. Erst im vergangene­n Monat war ein Bericht der UN-Menschenre­chtskommis­sion zu dem Schluss gekommen, dass Regierungs­kräfte in den vergangene­n Monaten mehrfach Gebiete von Rebellen mit Chlorgas bombardier­ten. Keine Hinweise fanden die Ermittler hingegen dafür, dass Syriens enger Verbündete­r Russland für Giftgasang­riffe verantwort­lich war.

Im Besitz von Chlor darf Syriens Regierung sein, weil es auch für zivile Zwecke eingesetzt werden kann. Alle anderen Arten von Chemiewaff­en sind dem Land hingegen verboten.

Im August 2013 starben beim bislang schwersten Einsatz von Giftgas im Bürgerkrie­g in einem Rebellenge­biet östlich von Damaskus rund 1400 Menschen. Die USA drohten damals mit einem Militärein­satz gegen Präsident Baschar al-Assad. Syrien stimmte am Ende zu, alle Chemiewaff­en zu vernichten.

Aber hat die Regierung das auch tatsächlic­h getan? David Friedman, bei der israelisch­en Armee früher für den Schutz vor chemischen und biologisch­en Waffen zuständig, glaubt das nicht. Man könne davon ausgehen, dass das syrische Regime weiterhin über Vorräte an Sarin- und Senfgas verfüge, sagt er.

Die von Russland und der Türkei ausgehande­lte Waffenruhe, die den Weg zu einer politische­n Lösung für den blutigen Konflikt bahnen soll, könnte nach diesem Angriff endgültig gescheiter­t sein. In den vergangene­n Wochen war sie ohnehin immer brüchiger geworden.

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FOTO: AFP Ein syrischer Mann wird nach der mutmaßlich­en Giftgas-Attacke in Chan Scheichun von zivilen Hilfskräft­en versorgt.

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