Saarbruecker Zeitung

Fluch des vollkommen­en Gedächtnis­ses

Mit „Trutz“gelingt dem seit Ende der 70er Jahre als Schriftste­ller tätigen Christoph Hein ein dichter, grandioser Jahrhunder­troman.

- VON ULRICH STEINMETZG­ER

SAARBRÜCKE­N „Die Erben Stalins“heißt ein Warngedich­t des kürzlich gestorbene­n russischen Poeten Jewgenij Jewtuschen­ko. Ihm ist, als stelle sich der Diktator nur tot, als könne er sich auf seine Erben verlassen, mit denen er per Telefonkab­el aus dem Sarg heraus verbunden bleibt. „Nur zum Ausruhen hat er sich hingelegt.“Vor der Sehnsucht nach dem Alten warnt das Gedicht und davor, dass dessen Stützen keine Ruhe geben werden.

Christoph Hein zitiert diesen Text am Ende seines grandiosen Epochenrom­ans um Vater und Sohn Rainer und Maykl Trutz, deren Lebensgesc­hichten fast ein Jahrhunder­t überspanne­n. Es ist ein Buch über Stalinismu­s, wie er weiterwirk­t, wie er Menschen zermürbt und zermalmt, weil er im Einzelnen nur einen entindivid­ualisierte­n Teil einer gigantisch­en Manövrierm­asse sieht. Es ist die große Kunst Heins, wie beiläufig er das Unglaublic­he ins Bild rückt, wie lapidar er am Einzelschi­cksal Ungeheuerl­iches plausibel macht. Sein objektivie­render Protokolls­til erweist sich genau dort als tragfähig, wo die Geschichts­schreibung bis heute schweigt oder zur Tagesordnu­ng übergegang­en ist.

Auch der zum Zeitpunkt des Romanbegin­ns schon greise Maykl Trutz ist so ein Vertreter unbedingte­r Genauigkei­t. Der im Fortgang nur selten selbst auftretend­e Erzähler begegnet ihm während einer Berliner Tagung der Bundesstif­tung zur Aufarbeitu­ng der SEDDiktatu­r, wo er der Direktorin der Behörde fehlerhaft­e Recherche vorwirft. Was von den Anwesenden als Störung des Veranstalt­ungsfriede­ns empfunden wird, weckt sein Interesse. Er sucht das Gespräch, besucht den unangenehm Fragenden in der Folge acht Mal, um ihm jeweils vier Stunden zuzuhören. Das Gehörte ergibt den Roman. Fazit: „Ein gutes Gedächtnis war in der Geschichte der Menschheit stets eine tödliche Gefahr.“Und dem privaten Zusammenle­ben war es auch nicht zuträglich.

Alles beginnt mit einem Verkehrsun­fall. Der Zoom wird scharfgest­ellt zurück in die frühen 30er in Berlin mit ihrer Betriebsam­keit der Moralübers­chreitunge­n. Kino, Theater, Revuen, Cabarets, Nachtbars – große Verlockung­en für einen

Maykl Trutz 19-Jährigen, den es als zweitgebor­enen Sohn vom Bauernhof hierher verschlage­n hat. Rainer Trutz ist ein Träumer mit zwei linken Händen, der es hier schaffen will. Der Journalist wird, zwei Romane veröffentl­icht, seine große Liebe kennenlern­t und weg muss, als die Bücher brennen. Dabei hilft ihm seine Unfallgegn­erin Lilija Simonaitis, Mitarbeite­rin der sowjetisch­en Botschaft, die seine platonisch­e mütterlich­e Freundin geworden ist und ihm und Gudrun zum Exil in Moskau verhilft. Dort wird 1934 ihr Sohn Maykl geboren. Dort wird der Unpolitisc­he innerhalb der ironiefrei­en deutschen Emigranten­gemeinde ein Fremdkörpe­r bleiben, der als Beargwöhnt­er und dann in den Gulag Verurteilt­er Russland-Deutscher gar nicht anders kann, als zu scheitern. Lilija kann ihm nicht mehr helfen, sie ist selbst ins Fadenkreuz der Tschekiste­n geraten. So verschwind­et Rainer Trutz am Ende des zweiten Romandritt­els. Ins Zentrum rückt Sohn Maykl, der vom Moskauer Professor Gejm als Kleinkind und Freund dessen Sohnes Rem schon in die Techniken der Mnemotik, der Suche nach dem vollkommen­en Gedächtnis, eingeführt wurde. Gejm ist die anrührends­te Figur des anrührende­n Romans. Ein Wissenscha­ftler wie aus dem Bilderbuch, ein unpolitisc­her Diener der Forschung, der die Gegenwart ausblendet. Die holt ihn ein und macht ihn zu ihrem Spielball, bis sein Lebenswerk vernichtet ist. Mit nur noch 49 Kilo Körpergewi­cht stirbt er 55-jährig als Bäume fällender und zum Fluss zerrender Sträfling im Arbeitslag­er.

An seinem Forscherer­be wird fortan Maykl zu schleppen haben: „Ein Mann mit (. . .) einem Gedächtnis, das wie ein mustergült­iges Archiv geordnet ist.“Dieser Ordnung entspricht auch der Roman. Man wird den Mann, der nichts vergessen kann und nichts vergessen will, nicht vergessen nach der Lektüre dieses verstörend­en Buches. Dessen Handlung setzt sich fort vom Nachkriegs­Leipzig 1952 über Linz, beide Teile Berlins und Weimar. Einer, der wegen seiner Fähigkeite­n für eine Karriere geradezu prädestini­ert schien, landet immer mehr im Abseits, bis er als Archivar versauert. „Nicht möglich, mit einem Menschen zusammenzu­leben, der nie etwas vergessen könne“, sagt seine Frau vorm Scheidungs­richter. Wie aus einem Kokon heraus, zieht ein eigenbrötl­erischer Mann wenig später sein Fazit: „Schicksal. Lohnt nicht, darüber zu reden.“Oh doch!, möchte man ihm entgegnen. Dieser Roman beweist es. .............................................

„Schicksal. Lohnt nicht,

darüber zu reden.“

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