Die Macht der türkischen Schweigespirale
ANALYSE Vor dem Referendum am Sonntag überwiegen Voraussagen eines Sieges von Erdogan. Doch die „heimlichen Nein-Wähler“treiben die Demoskopen um.
ISTANBUL Fast alle Lebensbereiche in der Türkei sind stark polarisiert, und die Demoskopie ist keine Ausnahme. Während regierungsnahe Institute von einem Sieg von Präsident Recep Tayyip Erdogan beim Verfassungsreferendum am kommenden Sonntag ausgehen, sagen andere Meinungsforscher einen Erfolg der „Nein“-Sager voraus. Die unterschiedlichen Ergebnisse hängen mitunter eng mit der Eigentümerstruktur der Institute zusammen. Bei vielen Instituten überwiegen wenige Tage vor der Abstimmung die Voraussagen eines Sieges von Erdogan. Demnach werden mehr als 50 Prozent der türkischen Wähler der Umwandlung des Landes in eine Präsidialrepublik mit weitreichenden Vollmachten für das Staatsoberhaupt zustimmen.
Die Umfragen zeigen teilweise allerdings sehr knappe Ergebnisse und haben mitunter hohe Fehlermargen; zudem ist die Gewichtung der Befragungen mit Blick auf Geschlecht und Alter der Teilnehmer sowie regionale Faktoren – in urbanen Gegenden wie dem Großraum Istanbul sind die Erdogan-Gegner besonders stark – von hoher Bedeutung. Bei einigen Instituten ist es keine Überraschung, dass Erdogan in den dortigen Befragungen gut wegkommt. So ist Hasan Basri Yildiz, Chef der Demoskopie-Firma Denge, ein Weggefährte des türkischen Präsidenten. Tevfik Göksu, ein Istanbuler AKP-Lokalpolitiker, ist Gründer der Firma Genar. Auch die Opposition kann auf Institute blicken, die ihr gewogen
Wahl-Beobachter sind. Der Chef der Firma Estima, Hasan Tanla, ist Sohn eines Politikers der laizistischen Oppositionspartei CHP. Der Demoskop Murat Gezici vom gleichnamigen Institut wird ebenfalls dem Lager der Erdogan-Skeptiker zugerechnet.
Trotz dieser festgefügten Lager machen einige Institute vor der Volksabstimmung mit Voraussagen von sich reden, die man von ihnen nicht unbedingt erwartet hätte. So geht Anar, ein vom früheren AKP-Vizepremier Besir Atalay gegründetes Institut, von einem knappen Sieg der Erdogan-Gegner aus. Auch Sonar, eine Firma aus dem Umfeld der Nationalistenpartei MHP, sagt eine Niederlage des Präsidenten voraus. Dagegen erwartet Murat Gezici einen Sieg Erdogans.
In den Tagen vor der Abstimmung treibt ein Phänomen türkische Politiker wie Demoskopen gleichermaßen um: die so genannten „heimlichen Nein-Wähler“, wie sie in der Presse genannt werden. Oppositionsvertreter und einige Experten messen der türkischen Schweigespirale eine potenziell entscheidende Bedeutung zu. Sie halten es für wahrscheinlich, dass ein Teil der Umfrage-Teilnehmer den Demoskopen nicht die Wahrheit sagen, wenn sie nach ihrer Wahlabsicht gefragt werden. „Da kommt ein Fremder in dein Dorf oder dein Stadtviertel und fragt dich aus – natürlich sagst du ihm nicht, dass du mit Nein stimmen wirst“, sagt ein Beobachter von Wahlen in Istanbul.
Auch in der AKP selbst wächst laut einigen Berichten die Gruppe heimlicher Erdogan-Gegner. Sie seien auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat und machten sich Gedanken über die Gründung einer neuen MitteRechts-Partei, um Gleichgesinnten eine Alternative zur Erdogan-Partei bieten zu können, meldete die Zeitung „Yenicag“.
Ob es so viele „heimliche NeinWähler“gibt, dass sie bei der Abstimmung den Ausschlag geben können, ist unklar. Der Demoskop Gezici will eine gewisse Entmutigung im „Nein“-Lager festgestellt haben. Viele Erdogan-Gegner seien der Meinung, ihre Stimme werde ohnehin nichts ändern, und wollten am Wahltag zu Hause bleiben.
„Da kommt ein Fremder
und fragt dich aus – natürlich sagst du ihm nicht, dass du mit Nein
stimmen wirst“