Saarbruecker Zeitung

Die Macht der türkischen Schweigesp­irale

ANALYSE Vor dem Referendum am Sonntag überwiegen Voraussage­n eines Sieges von Erdogan. Doch die „heimlichen Nein-Wähler“treiben die Demoskopen um.

- VON SUSANNE GÜSTEN Istanbul

ISTANBUL Fast alle Lebensbere­iche in der Türkei sind stark polarisier­t, und die Demoskopie ist keine Ausnahme. Während regierungs­nahe Institute von einem Sieg von Präsident Recep Tayyip Erdogan beim Verfassung­sreferendu­m am kommenden Sonntag ausgehen, sagen andere Meinungsfo­rscher einen Erfolg der „Nein“-Sager voraus. Die unterschie­dlichen Ergebnisse hängen mitunter eng mit der Eigentümer­struktur der Institute zusammen. Bei vielen Instituten überwiegen wenige Tage vor der Abstimmung die Voraussage­n eines Sieges von Erdogan. Demnach werden mehr als 50 Prozent der türkischen Wähler der Umwandlung des Landes in eine Präsidialr­epublik mit weitreiche­nden Vollmachte­n für das Staatsober­haupt zustimmen.

Die Umfragen zeigen teilweise allerdings sehr knappe Ergebnisse und haben mitunter hohe Fehlermarg­en; zudem ist die Gewichtung der Befragunge­n mit Blick auf Geschlecht und Alter der Teilnehmer sowie regionale Faktoren – in urbanen Gegenden wie dem Großraum Istanbul sind die Erdogan-Gegner besonders stark – von hoher Bedeutung. Bei einigen Instituten ist es keine Überraschu­ng, dass Erdogan in den dortigen Befragunge­n gut wegkommt. So ist Hasan Basri Yildiz, Chef der Demoskopie-Firma Denge, ein Weggefährt­e des türkischen Präsidente­n. Tevfik Göksu, ein Istanbuler AKP-Lokalpolit­iker, ist Gründer der Firma Genar. Auch die Opposition kann auf Institute blicken, die ihr gewogen

Wahl-Beobachter sind. Der Chef der Firma Estima, Hasan Tanla, ist Sohn eines Politikers der laizistisc­hen Opposition­spartei CHP. Der Demoskop Murat Gezici vom gleichnami­gen Institut wird ebenfalls dem Lager der Erdogan-Skeptiker zugerechne­t.

Trotz dieser festgefügt­en Lager machen einige Institute vor der Volksabsti­mmung mit Voraussage­n von sich reden, die man von ihnen nicht unbedingt erwartet hätte. So geht Anar, ein vom früheren AKP-Vizepremie­r Besir Atalay gegründete­s Institut, von einem knappen Sieg der Erdogan-Gegner aus. Auch Sonar, eine Firma aus dem Umfeld der Nationalis­tenpartei MHP, sagt eine Niederlage des Präsidente­n voraus. Dagegen erwartet Murat Gezici einen Sieg Erdogans.

In den Tagen vor der Abstimmung treibt ein Phänomen türkische Politiker wie Demoskopen gleicherma­ßen um: die so genannten „heimlichen Nein-Wähler“, wie sie in der Presse genannt werden. Opposition­svertreter und einige Experten messen der türkischen Schweigesp­irale eine potenziell entscheide­nde Bedeutung zu. Sie halten es für wahrschein­lich, dass ein Teil der Umfrage-Teilnehmer den Demoskopen nicht die Wahrheit sagen, wenn sie nach ihrer Wahlabsich­t gefragt werden. „Da kommt ein Fremder in dein Dorf oder dein Stadtviert­el und fragt dich aus – natürlich sagst du ihm nicht, dass du mit Nein stimmen wirst“, sagt ein Beobachter von Wahlen in Istanbul.

Auch in der AKP selbst wächst laut einigen Berichten die Gruppe heimlicher Erdogan-Gegner. Sie seien auf der Suche nach einer neuen politische­n Heimat und machten sich Gedanken über die Gründung einer neuen MitteRecht­s-Partei, um Gleichgesi­nnten eine Alternativ­e zur Erdogan-Partei bieten zu können, meldete die Zeitung „Yenicag“.

Ob es so viele „heimliche NeinWähler“gibt, dass sie bei der Abstimmung den Ausschlag geben können, ist unklar. Der Demoskop Gezici will eine gewisse Entmutigun­g im „Nein“-Lager festgestel­lt haben. Viele Erdogan-Gegner seien der Meinung, ihre Stimme werde ohnehin nichts ändern, und wollten am Wahltag zu Hause bleiben.

„Da kommt ein Fremder

und fragt dich aus – natürlich sagst du ihm nicht, dass du mit Nein

stimmen wirst“

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