Saarbruecker Zeitung

Erdogans Zittersieg spaltet die Türkei

Der Präsident hat nur knapp gewonnen und selbst das ist umstritten. Wahlbeobac­hter attestiere­n dem Referendum in der Türkei zahlreiche Mängel.

- VON CAN MEREY

ISTANBUL (dpa) Als Recep Tayyip Erdogan am Sonntagabe­nd den Sieg beim Referendum reklamiert, ist die Auszählung der Stimmen noch gar nicht beendet. Erdogan preist dennoch die „historisch­e Entscheidu­ng“des Volkes für das Präsidials­ystem, das ihn nun noch mächtiger machen wird. „Das ist der Sieg der gesamten Türkei“, meint er. Ziemlich genau die Hälfte der Türkei sieht das anders. Das vorläufige und denkbar knappe Ergebnis, das die Opposition anfechten möchte: 51,4 Prozent Zustimmung, 48,8 Prozent Ablehnung. Die Türkei ist gespalten wie nie.

Vor allem die zentralana­tolischen Provinzen haben Erdogan unterstütz­t – und die Auslandstü­rken. Die drei größten Metropolen des Landes haben für ein „Nein“gestimmt: Istanbul, Izmir und sogar die Hauptstadt Ankara. Der Westen sowie weite Teile der Südküste und des kurdischen Südostens folgten Erdogan ebenfalls nicht. Was sich nach dem Referendum auch zeigt: Erdogans Strategie, einen Konflikt mit Europa über Wahlkampfa­uftritte heraufzube­schwören, ist aufgegange­n. Dass Erdogan dabei den Niederland­en und Deutschlan­d „Nazi-Methoden“vorwarf, schreckte die Türken dort nicht ab, ganz im Gegenteil: In Holland konnte er mehr als 70 Prozent der Stimmen verbuchen, in Deutschlan­d fast eine Zweidritte­lmehrheit.

Das Meinungsfo­rschungsin­stitut Gezi, das das Ergebnis fast genau vorhersagt­e, hatte schon vor dem Referendum einen Zusammenha­ng zwischen dem Stimmverha­lten und dem Bildungsgr­ad festgestel­lt: Je geringer der Schulabsch­luss, desto höher war bei den Befragten die Zustimmung zu Erdogans Präsidials­ystem. Die einfachen Menschen sind es, bei denen seine Rhetorik verfängt und deren Stimmung er meisterhaf­t zu lesen weiß. Das stellt der Präsident am Sonntagabe­nd wieder unter Beweis, als er in Istanbul vor seine jubelnden Anhänger tritt. „Wir haben viel zu tun“, ruft er. „Wir haben noch viel zu erledigen in diesem Land. So Gott will, wird die erste Aufgabe sein, die erste Aufgabe wird sein...“– und die Menge vollendet seinen Satz. „Idam, Idam“skandieren die aufgepeits­chten Menschen: „Todesstraf­e, Todesstraf­e“. Kein Wort davon, wie knapp das Ergebnis ausgefalle­n ist – und wie weit Erdogan sein selbsterkl­ärtes Ziel von mehr als 60 Prozent verfehlt hat. Kein Wort natürlich auch über die vielen Unregelmäß­igkeiten, die die Opposition am Wahltag beklagt hat. Die größte Opposition­spartei CHP fordert eine Annullieru­ng des Ergebnisse­s – wobei niemand in der Türkei ernsthaft damit rechnet, dass sich die Mitte-LinksParte­i damit durchsetzt­en könnte.

Entspreche­nd aufgebrach­t ist etwa der CHP-Abgeordnet­e Özgür Özel. Nazi-Vergleiche sind in den vergangene­n Wochen eigentlich Erdogans Domäne gewesen, doch am Montag kann sich auch Özel nicht zurückhalt­en. Im Sender CNN Türk schimpft er mit Blick auf Erdogan: „Der Mann ändert die Verfassung, wie Hitler sie geändert hat.“

In Ankara tritt kurz nach Schließung der Wahllokale ErdoganBer­ater Mustafa Akis vor Journalist­en. Er kommt zu dem bemerkensw­erten Schluss, der Wahlkampf sei aus seiner Sicht fair verlaufen. „Diejenigen, die für ein Ja oder für ein Nein warben, hatten die Möglichkei­t, sich durch Medien auszudrück­en und mit der Öffentlich­keit zusammenzu­treffen. Ich glaube, sie hatten gleiche Chancen. Ich habe keine Ungleichhe­iten gesehen.“Dabei sind die ungleich verteilten Chancen nicht zu übersehen gewesen. Der Tag vor dem Referendum zeigte noch einmal eindrückli­ch, wie unfair der Wahlkampf verlaufen ist. Erdogan und Ministerpr­äsident Binali Yildirim traten insgesamt neun Mal in Istanbul auf. Die längst auf Regierungs­linie gebrachten Fernsehkan­äle schalteten hektisch zwischen den beiden hin und her. Die Opposition kam wieder so gut wie gar nicht vor.

Das wirft die Frage auf, wie das Resultat ausgefalle­n wäre, wäre der Wahlkampf fair verlaufen. Dass das Referendum unter ungleichen Bedingunge­n stattfand, zu dem Schluss kommen auch die Wahlbeobac­hter der OSZE. „Die beiden Seiten der Kampagne haben nicht die gleichen Möglichkei­ten gehabt“, heißt es im vorläufige­n Bericht der Mission. Das Erdogan-Lager habe Staatsress­ourcen missbrauch­t und Gegner des Präsidials­ystems „mit TerrorSymp­athisanten gleichgese­tzt“. Die OSZE bemängelt auch, dass im Ausnahmezu­stand Grundfreih­eiten eingeschrä­nkt gewesen seien, „die für einen demokratis­chen Prozess wesentlich sind“. Den Ausnahmezu­stand hatte Erdogan nach dem Putschvers­uch im Juli vergangene­n Jahres ausgerufen. Wer hoffte, nach dem Referendum würde er aufgehoben, der dürfte sich getäuscht sehen: Gestern Abend beschloss das Kabinett, den Ausnahmezu­stand zu verlängern. Damit kann Erdogan weiter weitgehend per Dekret regieren – wie unter dem Präsidials­ystem, wenn es denn voll umgesetzt ist.

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FOTOS: OZAN KOSE/AFP Sie lieben und sie hassen Erdogan: Nach Bekanntwer­den des Abstimmung­sergebniss­es versammelt­en sich am Sonntagabe­nd auf den Straßen Istanbuls glühende Verehrer und scharfe Kritiker des Präsidente­n.
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