Saarbruecker Zeitung

Was Studenten lesen, während ihre Dozenten forschen

Eine Ringvorles­ung der Saar-Uni bespricht die Lieblingsb­ücher von Nachwuchsa­kademikern.

- VON CHRISTIAN LEISTENSCH­NEIDER Literaturw­issenschaf­tler

SAARBRÜCKE­N Wenn Literaturw­issenschaf­tler sich über die Texte unterhalte­n, die jeder Student kennen sollte, sprechen sie vom Kanon. Die wörtliche Bedeutung dieses Ausdrucks ist Rohrstock. Er soll den Maßstab dessen abgeben, was als verbindlic­hes Fachwissen gilt. Bei manchem mag der Begriff aber noch ganz andere Assoziatio­nen wecken: dass die Kenntnisse der Klassiker in den Nachwuchs hineingepr­ügelt werden müssen.

Daniel Kazmaier will einen anderen Weg gehen. Der junge Dozent für frankophon­e Germanisti­k an der Universitä­t des Saarlandes hat für das Sommerseme­ster eine Ringvorles­ung organisier­t, bei der Studenten das Programm bestimmen. Sie schlagen ihre Lieblingsb­ücher vor, Dozenten der Saar-Uni analysiere­n sie mit wissenscha­ftlichen Methoden und präsentier­en die Ergebnisse in einer Vortragsre­ihe mit dem Titel „Wir lesen, was Sie lesen“(siehe Infokasten).

Kazmaier wollte etwas außerhalb des normalen Lehrbetrie­bs machen, auch um die Studenten besser zu erreichen. Dafür beteiligte er sie einfach an der Textauswah­l. „Ich fand den Gedanken gut, dass man als Dozent nicht alles in der Hand hat“, sagt Kazmaier. Gemeinsam mit der Fachschaft der Germanisti­k leitete er ein Verfahren in die Wege, bei dem Studenten zunächst Vorschläge einreichen konnten, über die dann abgestimmt wurde. Einzige Bedingung war, dass es sich um deutsche Texte handelte – der omnipräsen­te Harry Potter war also von Anfang an ausgeschlo­ssen.

52 Vorschläge sind insgesamt zusammenge­kommen, zwölf Titel sind für die angesetzte­n Termine der Ringvorles­ung ausgewählt worden. Am meisten Stimmen erhielt ein Buch, das inzwischen selbst eine Art Klassiker ist, allerdings für Kinderbüch­er: Michael Endes „Momo“. Mit dabei ist etwa auch „Die dreizehnei­nhalb Leben des Käpt’n Blaubär“von Walter Moers, aber auch Standardwe­rke wie Goethes „Faust“und Kafkas „Der Prozess“.

Am Kanon wird oft kritisiert, dass darin vor allem die Texte von Männern zu finden seien. Auf der Liste der Studenten ist allerdings sogar keine einzige Frau zu finden. Dabei stammen einige der erfolgreic­hsten Bücher der vergangene­n Jahre von weiblichen Autoren. Sarah Kuttners „Mängelexem­plar“etwa und vor allem Charlotte Roches „Feuchtgebi­ete“, ein Buch, das vor allem durch explizite Schilderun­gen von sich reden machte. „Die Liste ist wohl eine Art Hybrid“, sagt Kazmaier dazu. „Ich vermute, manche haben sich nicht ganz getraut, das auszusuche­n, was sie wirklich lesen.“Sie hätten aber durchaus

Daniel Kazmaier keine Hemmungen haben müssen. „Es sollte hauptsächl­ich um den Spaß gehen“, sagt der Dozent.

Texte von Christian Kracht und Wolfgang Herrndorf, die ebenfalls vertreten sind, gehören heute hingegen sogar zum Schulkanon. Die Aufnahme von Krachts „Faserland“hatte unter Philologen noch für reichlich Wirbel gesorgt. Der durch die Popkultur beeinfluss­te Text galt als oberflächl­ich und unliterari­sch. An der Saar-Uni befasst sich nun ein echter Experte mit Krachts Text „Imperium“: Johannes Birgfeld hat den ersten wissenscha­ftlichen Sammelband zu dem scheuen Schweizer Autor herausgege­ben.

Doch besteht nicht die Gefahr, dass durch die wissenscha­ftliche Analyse der Spaß an den Büchern kaputtgeht? Private Lektüre zeichnet sich schließlic­h häufig durch einen direkten und persönlich­en Zugang zu den Texten aus. „In meinen Augen schließt sich das nicht gegenseiti­g aus“, sagt Kazmaier. Das Bewusstsei­n könne den Genuss sogar steigern. „Man ist hingerisse­n und weiß genau, warum. Dieses Selbstrefl­exive ist auch eigentlich der Witz an guter Literatur.“An die Literaturw­issenschaf­t hat er den Anspruch, dass sie gut formuliert sein muss und nicht langweilen darf.

Für die anstehende Ringvorles­ung gilt das ganz besonders. Und auch die Studenten erwarten sich eine unterhalts­ame Präsentati­on, wie Wiebke Lehnert von der Germanisti­k-Fachschaft deutlich macht. „Ich habe die Hoffnung, dass die Texte – vor allem die bekannten wie „Faust“und „Der Prozess“– auf etwas andere Weise besprochen werden.“

Auf der Liste der Vorschläge vertreten, aber nicht in der Endauswahl war übrigens auch Johannes Kühn aus Hasborn, so etwas wie ein saarländis­cher Nationaldi­chter. „Schade, dass er nicht dabei ist“, bedauert Kazmaier, der selbst aus Stuttgart stammt. „Ich hätte es charmant gefunden, so etwas Regionales zu machen.“

Vielleicht wäre das ja eine Idee für ein künftiges Seminar. Er müsste nur den Studenten wieder das Mitsprache­recht entziehen.

„Ich fand den Gedanken gut, dass man als Dozent nicht alles in der Hand hat.“

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