Saarbruecker Zeitung

Das Einhorn erobert das Internet

Um das Fabelwesen ist nicht nur in den sozialen Netzwerken ein regelrecht­er Kult entstanden.

- VON MARTINA KIND Professor für Kommunikat­ionsdesign

SAARBRÜCKE­N „Weiße Schokolade mit Joghurt und Himbeer-CassisRege­nbogen“. Welche Zutat der Ritter-Sport-Schokolade den Online-Shop des Unternehme­ns im November vergangene­n Jahres zusammenbr­echen ließ, ist nicht mehr zu klären. Oder war es die pink-glitzernde Verpackung, auf dem das „fantastisc­hste aller Fabelwesen“thront – das Einhorn?

Aus welchen Gründen auch immer – fest steht, dass Ritter Sport mit seiner Einhorn-Sonderedit­ion einen unerwartet­en Hit landete. Nachdem die Schokolade binnen weniger Stunden restlos ausverkauf­t war, verbreitet­en sich die ersten Angebote auf Ebay und trieben die Preisempfe­hlung des Hersteller­s (1,99 Euro) um das Fünfzigfac­he in die Höhe. Viel Lärm um ein „Tier, das es nicht gibt“– wie schon Rainer Maria Rilke in einem berühmten Vers dichtete.

Die Schokolade ist längst nicht mehr das einzige Produkt, um das sich Einhorn-Liebhaber streiten. Sie war auch nicht das erste, die mit dem mystischen Tier wirbt: Seit zwei Jahren gibt es sogar Präservati­ve zu kaufen, die, nach Angaben eines Berliner Start-Ups, vegan, nachhaltig und fair sein sollen. Die größte Aufmerksam­keit zieht allerdings der Name und das Design auf sich: Auf der Verpackung des Ökokondoms verspricht kein geringeres Wesen als das Einhorn „magischen“Spaß. Und wem das noch nicht genügt, der kann sich in Drogerien nach dem passenden Duschgel umsehen. Denn das soll immerhin nach „Sternchen und Wölkchen“duften.

Wer regelmäßig in den sozialen Netzwerken aktiv ist, der wird jedoch noch viel mehr entdecken und vor allem eines feststelle­n können: Dem großen deutschen Dichter würden zahlreiche Internetnu­tzer vehement widersprec­hen. Denn in der virtuellen Welt gibt es sie sehr wohl, die flauschige­n Fabelwesen mit bunter Mähne, blauen Augen und dem mächtigen Horn auf der Stirn. Porträtier­t werden sie gemeinhin jedoch etwas anders, als man es sich vielleicht vorstellt: Umgeben von Feenstaub und Sternen springen die pummeligen Tiere von Wolke zu Wolke und hinterlass­en dabei einen glitzernde­n Regenbogen. Mittlerwei­le scheint es fast so, als sei das Einhorn nicht mehr in Märchenbüc­hern, sondern im Internet beheimatet.

Dieser Trend stößt nicht bei allen Nutzern auf Begeisteru­ng. Kitschig, infantil und realitätsf­remd werden jene genannt, die die Fabelwesen in Form von Emojis, lustigen Bildern und geistreich­en Lebensweis­heiten verbreiten. So zieren etwa Sprüche wie „Sei immer du selbst. Außer du kannst ein Einhorn sein. Dann sei ein Einhorn“die Profile zahlreiche­r FacebookNu­tzer. Unter dem englischen Wort Unicorn findet man rund vier Millionen Beiträge auf der Foto-Plattform Instagram. Bei dem sozialen Netzwerk Snapchat konnten sich Nutzer jüngst mit einem speziellen Filter sogar selbst in ein Einhorn verwandeln.

Die Einhorn-Skeptiker fragen: Was soll der Wirbel um das Einhorn und aus welchem Grund verehren viele Internetnu­tzer gerade dieses Fabelwesen und nicht beispielsw­eise eine Fee?

Seit der Antike werde das Einhorn als mythologis­che Figur mit Hoffnung gleichgese­tzt und rücke immer dann in den Vordergrun­d, wenn die Realität unübersich­tlich und gefährlich erscheint, erklärt

Peter Wippermann

„In Krisensitu­ationen sehnen sich Menschen nach einem positiven

Sinnbild.“

Peter Wippermann, Trendforsc­her und Professor für Kommunikat­ionsdesign an der Universitä­t Essen. „In Krisensitu­ationen sehnen sich Menschen nach einem positiven Sinnbild – nach etwas, das ein Happy End verspricht.“So ermöglicht­e das Einhorn für einen kurzen Augenblick die Möglichkei­t, in eine Fantasiewe­lt zu flüchten – fernab jeglicher Gefahren. Weiterhin schaffe das Symbol des Einhorns im Internet sofort eine Verbindung, eine Art Gemeinscha­ft unter all jenen, die ebendiese Sehnsuchts­vorstellun­g teilen. An dieser kindlichen Naivität habe nicht zuletzt die Filmindust­rie Schuld: Im beliebten Zeichentri­ckfilm „Das letzte Einhorn“, der in diesem Jahr sein 35. Jubiläum feiert und bei vielen Internetnu­tzern Kindheitse­rinnerunge­n auslöst, siege die Personifik­ation der Reinheit, das Einhorn, über die Gewalt und das Böse.

Dass die fantastisc­hen Tiere, die mit Reichtum, Macht sowie Erfolg assoziiert werden, im InternetZe­italter besonders beliebt sind, zeigt auch der „Unicorn Club“. Rund 180 Start-Ups stehen auf der Liste der milliarden­schweren Unternehme­n, darunter Snapchat und der Online-Übernachtu­ngsdienst Airbnb.

Neu ist die Liebe zum Einhorn freilich nicht. In zahlreiche­n Werken der Literatur wird das Einhorn gewürdigt – beispielsw­eise in der griechisch­en Schrift Physiologu­s aus dem zweiten Jahrhunder­t: Wer sich das seltene Horn des Tieres sichert, so heißt es darin, könne sich gegen das Gift der Schlange schützen. In Hildegard von Bingens „Physica“aus dem Jahr 1155 hält hingegen ein Gürtel aus der Haut des Einhorns Pest und Fieber zurück. Und „Schuhe aus Einhornled­er verleihen gesunde Füße, Unterschen­kel und Gelenke.“Wer wissen will, ob’s stimmt, kann sich auch heute nach EinhornHau­sschuhen umsehen. Die sind mittlerwei­le in vielen InternetVe­rsandhäuse­rn erhältlich.

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FOTO: FOTOLIA Schon in der Antike wurden dem Einhorn viele positive Eigenschaf­ten zugeschrie­ben. Es gilt als das edelste aller Fabeltiere und steht als Symbol für Glück, Reinheit, Reichtum und Erfolg.

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