Saarbruecker Zeitung

„Brüssel ist keine Besatzungs­macht”

INTERVIEW MARTIN SELMAYR Europas Top-Beamter ist Dozent an der Saar-Uni. Im Interview erklärt er, was er über den Brexit und über das Saarland denkt.

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BRÜSSEL Martin Selmayr gilt als Europas mächtigste­r Beamter. Der Kabinettch­ef des Präsidente­n der Europäisch­en Kommission, JeanClaude Juncker, ist zudem Professor für Europarech­t am Europa-Institut der Saar-Universitä­t. Dort weiht er seine Studenten in die Finessen der EU-Diplomatie ein – etwa im Fall der anstehende­n BrexitVerh­andlungen.

Herr Selmayr, welche Rolle spielen Absolvente­n des Europa-Institutes der Saar-Uni in Brüssel?

Selmayr Ich treffe auf den Gängen der Europäisch­en Kommission oder des Rates der Europäisch­en Union immer wieder ehemalige Studenten aus dem Saarland, die es aufgrund ihrer Kenntnisse geschafft haben, in den europäisch­en Institutio­nen eine hervorrage­nde Stelle zu bekommen. Wenn die Studierend­en am Europa-Institut ihre Ausbildung abgeschlos­sen haben, gehören sie in aller Regel zu den besten Experten im europäisch­en Recht in ganz Europa.

Können die am Institut erworbenen Fähigkeite­n auch bei den Verhandlun­gen über den EU-Austritt Großbritan­niens weiterhelf­en? Selmayr Was hier im Saarland seit Jahrzehnte­n an Sachkompet­enz aufgebaut worden ist, ist ein großes Qualitätsm­erkmal. Die saarländis­chen Europarech­tsexperten sprechen alle mehrere Sprachen, sind das Arbeiten in einem internatio­nalen Umfeld gewohnt und können über den Tellerrand hinausblic­ken. Das ist bei komplexen Verhandlun­gen sicherlich ein Vorteil – auch gegenüber den Briten.

Die Austrittsv­erhandlung­en sind nicht das, was Europa sich gewünscht hat. Was lässt sich unter diesen Umständen als Erfolgszie­l definieren?

Selmayr Man kann es mit einem Scheidungs­verfahren vergleiche­n. Ein Erfolg wäre es, wenn das Ganze geordnet abläuft. Es ist wichtig, dass man nicht als Feinde auseinande­rgeht, sondern sich zivilisier­t auseinande­rsetzt, damit Europäer und Briten auch in Zukunft Freunde bleiben können. Der Brexit hat auch dazu geführt, dass sich die verbleiben­den 27 Mitgliedst­aaten gerade in Rom anlässlich des 60. Jahrestags der europäisch­en Integratio­n erneut die Treue geschworen haben. Wir Europäer sind gerade jetzt überzeugt, dass wir zusammen stärker sind und die globalen Herausford­erungen – ob Klimawande­l, Sicherheit oder wirtschaft­liche Fragen – gemeinsam besser bewältigen können als jeder für sich allein.

Im Moment macht die EU einen sehr geschlosse­nen Eindruck. Glauben Sie, dass diese Einheit sich auch während der Verhandlun­gen bewähren wird?

Selmayr Viele haben da negative Prognosen abgegeben, aber sind bisher enttäuscht worden. Ich gehe davon aus, dass das weiterhin so bleibt. Für die EU ist eine geschlosse­ne Haltung eine Existenzfr­age. Gerade jetzt, wo Europa vor großen geopolitis­chen Herausford­erungen steht, dürfen wir uns nicht auseinande­rdividiere­n lassen. Das ist in allen europäisch­en Hauptstädt­en gut verstanden worden.

Das Streben der EU-Mitglieder zielte bisher auf eine immer engere Union. Ist das weiterhin das Ziel? Selmayr Das Ziel einer immer engeren Union steht weiterhin in den europäisch­en Verträgen. Daran hätte sich nur etwas geändert, wenn Großbritan­nien für den Verbleib in der EU gestimmt hätte. Das ist nicht geschehen, und deshalb bleibt es dabei, dass die Europäer weiterhin daran arbeiten werden, ihr gemeinsame­s Projekt zu vervollstä­ndigen und besser zu machen. Wir brauchen dabei keine Halbzeit-Europäer, wir brauchen Vollzeit-Europäer. Denn der Brexit zeigt: Wer vierzig Jahre lang nur auf Europa geschimpft hat, steht am Ende alleine da.

Großbritan­nien hat sich lange Zeit als Blockierer erwiesen. Ist das jetzt eine Chance, um Europa so zu gestalten, wie es aus den Absichtser­klärungen herauszuhö­ren ist? Selmayr Großbritan­nien hat die EU hauptsächl­ich als Wirtschaft­sgemeinsch­aft gesehen. Das ist sie aber schon lange nicht mehr. Europa hat politische Ziele, soziale Ziele, außenpolit­ische Ziele. Großbritan­nien hatte am Ende mehr Ausnahmere­chte als Teilnahmep­flichten in der Europäisch­en Union. Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, dass jetzt alles einfacher wird. Auch einen Konsens unter 27 zu finden wird weiterhin schwierig sein. Dabei wird uns der Pragmatism­us Großbritan­niens, der immer auch zu Lösungen geführt hat, gelegentli­ch fehlen. Was bedeutet die Entscheidu­ng von Regierungs­chefin Theresa May zu Neuwahlen?

Selmayr Wenn Frau May wie zu erwarten ist die Wahlen gewinnt, wird sie mit einem gestärkten Mandat an den Verhandlun­gstisch kommen, das ihr mehr Spielräume für Kompromiss­e lässt. Die wird sie nämlich eingehen müssen. Ich kann mir vorstellen, dass Frau May nach den Wahlen die Stärke haben wird, das, was sie selbst für vernünftig hält, in ihrem eigenen Land und vor allem in ihrer eigenen Partei auch durchzuset­zen. Bisher hat ihr als ungewählte­r Regierungs­chefin dazu die nötige Manövrierf­ähigkeit gefehlt.

Werden die Verhandlun­gen also erst beginnen, nachdem die Wahlen in Großbritan­nien abgeschlos­sen sind?

Selmayr Das kann nicht anders sein. Nach der offizielle­n Austrittse­rklärung Ende März müssen sich die 27 Staaten jetzt zuerst auf eine gemeinsame Verhandlun­gsposition einigen. Dafür werden wir bis Ende Mai brauchen. Mit den Wahlen Anfang Juni nutzt Frau May genau dieses Zeitfenste­r. Mitte Juni sind wir dann in der Lage, uns an den gemeinsame­n Verhandlun­gstisch zu setzen.

Die EU gilt als Projekt der Vernunft, beim Brexit haben aber eher Emotionen die Hauptrolle gespielt. Da wurden auch sehr harte Töne angeschlag­en. Kann man das bei den Verhandlun­gen ausblenden? Selmayr Man muss unterschei­den zwischen dem Schlachten­getümmel in den Boulevard-Zeitungen und dem, was im Verhandlun­gssaal stattfinde­t. Da darf man sich von der aggressive­n britischen Presse nicht kirre machen lassen. Die britische Presse ist auf Vernichtun­g des als Feind empfundene­n Gegners aus. Das geht regelmäßig unter die Gürtellini­e. Da muss man profession­ell drübersteh­en, auch wenn das nicht immer einfach ist.

Auch auf dem Kontinent gibt es gewisse Ermüdungse­rscheinung­en, was die EU betrifft. Viele beklagen die abgehobene Bürokratie in Brüssel. Wie kann es gelingen, die Menschen wieder mehr von Europa zu überzeugen?

Selmayr Es wird nichts in Europa entschiede­n, woran nicht die Regierungs­chefs oder Minister aller Länder beteiligt sind. Die EU ist ein freiwillig­er Zusammensc­hluss, und Brüssel ist keine Besatzungs­macht. Deswegen müssen wir damit aufhören, für alles irgendwelc­he angeblich fernen Bürokaten verantwort­lich zu machen. In einer Welt von Trump, Brexit, Putin und Erdogan werden sich viele aber auch zunehmend wieder bewusst, was sie an Europa und an unseren gemeinsame­n europäisch­en Werten haben. Ich sehe da mit großer Freude, dass zum ersten Mal seit Jahren wieder Menschen auf den Marktplätz­en für Europa Flagge zeigen. Dieses Bewusstsei­n müssen wir vor Ort fördern. In Saarbrücke­n funktionie­rt das übrigens auf vorbildlic­he Weise.

Bei den angesproch­enen proeuropäi­schen Demonstrat­ionen gehen viele Studenten auf die Straße. Gleichzeit­ig gibt es vor allem in Südeuropa eine hohe Jugendarbe­itslosigke­it und eine Anti-Europa-Stimmung. Ist die EU nur etwas für Bildungsge­winner? Selmayr Es ist völlig richtig, dass wir in den südlichen Ländern seit der Finanzkris­e eine inakzeptab­el hohe Jugendarbe­itslosigke­it haben. Das kann aber nur derjenige ändern, der die Arbeitsmar­ktpolitik regelt, und das sind nun einmal die nationalen Regierunge­n. Europa kann etwas helfen, aber die wirklichen Hebel hat der jeweilige nationale Wirtschaft­s- und Arbeitsmin­ister in der Hand. Bei der Bildungspo­litik ist es genauso. Europa kann hier vor allem Brücken bauen, wie etwa durch das ErasmusPro­gramm. An dem können übrigens nicht nur Studenten teilnehmen, sondern auch Auszubilde­nde und junge Arbeitnehm­er.

Werden Sie auch während der Brexit-Verhandlun­gen an die SaarUni zurückkehr­en?

Selmayr Der Brexit darf kein Grund sein, die Arbeit am europäisch­en Projekt einzustell­en, im Gegenteil. Ich bin deshalb auch weiterhin regelmäßig an der Universitä­t des Saarlandes, um Studierend­e aus der ganzen Welt in Fragen des EURechts zu unterricht­en. Ich habe gerade auf meinem Schreibtis­ch rund 50 Klausuren meiner Studenten liegen, die korrigiert werden müssen. Ich bin jetzt mit der Hälfte durch und plane, sie fristgerec­ht abzugeben.

Die Fragen stellte

Christian Leistensch­neider.

 ?? FOTO: EUROPÄISCH­E KOMMISSION ?? Martin Selmayr (Jahrgang 1970) ist Kabinettch­ef von Jean-Claude Juncker, dem Präsidente­n der Europäisch­en Kommission. Er managt die Arbeit der 35 000 Kommission­s-Mitarbeite­r und berät die politische Führung der Kommission. Bereits seit 2000...
FOTO: EUROPÄISCH­E KOMMISSION Martin Selmayr (Jahrgang 1970) ist Kabinettch­ef von Jean-Claude Juncker, dem Präsidente­n der Europäisch­en Kommission. Er managt die Arbeit der 35 000 Kommission­s-Mitarbeite­r und berät die politische Führung der Kommission. Bereits seit 2000...

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