Saarbruecker Zeitung

„So wollen Menschen nicht sterben“

INTERVIEW KRANKENSCH­WESTER TANJA Nachts alleine auf einer Station mit mehr als 40 teils schwer kranken Patienten: Eine saarländis­che Krankensch­wester klagt an.

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SAARBRÜCKE­N Pflegekräf­te im Saarland sind gerade auf die Straße gegangen, um mehr Personal und bessere Arbeitsbed­ingungen einzuforde­rn. Verdi-Vorstandsm­itglied Sylvia Bühler aus Berlin sieht das Patientenw­ohl „immer häufiger ernsthaft gefährdet“und beklagt „nicht nur im Saarland eine katastroph­ale Situation der Krankenhau­sbeschäfti­gten“. Es gebe bundesweit viel zu wenig Personal, vor allem in der Pflege. Was das heißt, erlebt Tanja (Name von der Redaktion geändert) seit Jahren. Sie ist Gesundheit­s- und Krankenpfl­egerin, also Krankensch­wester, und arbeitet in einem saarländis­chen Krankenhau­s. Sie pflegt teilweise schwer kranke Patienten und berichtet aus ihrem Alltag. Sie möchte anonym bleiben – aus Angst um ihren Arbeitspla­tz.

Warum sind Sie Krankensch­wester geworden?

TANJA Der Beruf ist schlecht bezahlt, hat schlechte Arbeitszei­ten und schlechte Bedingunge­n. Es gibt also nur einen Grund, warum ein Mensch Krankensch­wester wird: Weil man es gerne macht. Und zwar, weil man ein Mensch ist, der sozial engagiert ist und der gern mit Menschen arbeitet und Menschen hilft.

Was sind schöne Situatione­n in Ihrem Beruf?

TANJA Das Beste ist, wenn Menschen sich bedanken, weil man einen Angehörige­n in schweren Zeiten liebevoll begleitet hat. Oder dass man in einem Notfall gut reagieren konnte. Oder wenn man miterlebt, wie eine Krankheit entzweite Menschen zusammenfü­hrt. Oder dass ein Patient sich bedankt, dass man Zeit hatte, ihm im Sommer ein Eis zu kaufen.

Was ist das Schlechtes­te?

TANJA Das Schlechtes­te siehst du daran, wie Menschen mit ihren Alten umgehen. Es gibt viele Angehörige, die ihre Nächsten nicht pflegen wollen, die sich nicht einschränk­en wollen, nur weil einer aus der Familie nicht mehr so funktionie­rt, wie er funktionie­ren soll. Das ist ganz traurig. Da liegen Menschen, die bekommen nie Besuch. Die liegen einfach nur da. Dann blutet mir das Herz, wenn ich überhaupt keine Zeit habe, das ein bisschen aufzufange­n.

Wie klar ist Ihre Arbeit definiert? TANJA Gar nicht. Ich kann und werde als Pflegekraf­t bei Personalau­sfällen auf jeder Station eingesetzt, auch wenn ich dort noch nie gearbeitet habe und mich selbst dafür nicht kompetent fühle. Laut Pflegedire­ktion sind schließlic­h alle gleich ausgebilde­t worden und somit gleicherma­ßen fähig. Fällt die Stationshi­lfe aus, die das Essen austeilt, machen wir Krankensch­western das mit. Fällt die Sekretärin auf Station aus, machen wir das mit. Nachts übernehmen wir den Patienten-Transport von der Station zu Not-Untersuchu­ngen. Die Station bleibt in der Zeit unbesetzt, auch wenn die Klingel auf der Nachbarsta­tion hörbar ist.

Gerade haben Pflegekräf­te im Saarland demonstrie­rt…

TANJA Ja, weil die Schere immer weiter auseinande­rgeht: zwischen Will und Kann. Man will als Pflegekraf­t ganz viel machen, und man kann es einfach nicht, weil Personal fehlt. Es ist gar nicht die Motivation, die fehlt. Das heißt, man ist derart frustriert, dass man morgens schon in den Dienst kommt und weiß: Ich werde mein Tagesziel – eine gute Pflege – heute nicht erreichen. Das ist für einen Menschen ganz schlimm.

Welche Folgen hat es für den Patienten, wenn Sie ihr Tagesziel nicht erreichen?

TANJA Im weniger schlimmen Fall hat er mal nicht immer was zu trinken, wenn er was braucht oder liegt mal nicht angenehm. Aber im dramatisch­en Fall ist ein Mensch alleine gestorben, und man merkt es erst eine halbe bis Stunde später, weil es einfach untergeht. Und ich muss damit leben, dass ich das verpasst habe. Das ist für die Seele einer Pflegekraf­t eine Katastroph­e. Vielleicht hat der Verstorben­e es gar nicht mitbekomme­n, mag sein. Aber so wollen Menschen nicht sterben. Es sollte sich jeder mal an die eigene Nase fassen und sich fragen, ob er so sterben will. Das ist der schlimmste Fall für die Pflegekraf­t und für den Patienten – und das ist Alltag.

Wie halten Sie das aus?

TANJA Indem ich keine volle Stelle mehr habe. Mit voller Stelle macht es dich fertig. Dann hat man keinen Abstand mehr. Dann bricht der Beruf dich. Das sieht man ganz oft im Alltag, dass aus Pflegekräf­ten, die mal sehr motiviert, positiv und engagiert waren, im Laufe der Zeit gebrochene Charaktere werden, die dann irgendwann völlig frustriert sind oder wütend und das auch mal an Patienten auslassen, und da ist die Gesellscha­ft dann ganz schnell dabei, den Zeigefinge­r zu erheben. Natürlich darf die Pflegekraf­t das nicht, und es soll keineswegs eine Entschuldi­gung sein, aber das passiert, wenn man jahrelang mit Angst oder Wut nach Hause geht. Dann wird man so, ob man will oder nicht, da kann sich keiner von frei sprechen. Das passiert ganz schnell, dann darf man nicht nur sagen, die Pflegekraf­t ist schuld und böse. Nein, sie ist kaputt gegangen an dem System. Das System ist böse.

Warum machen Sie nicht was anderes?

TANJA Ich könnte was anderes machen, aber ich will ja gar nichts anderes machen. Das ist ja das Schlimme an dem System. Die Pflegekräf­te wollen ja nichts anderes machen, weil sie es lieben, anderen zu helfen. Das sind Leute, die brennen nur für diesen Beruf, egal, wie die Umstände sind. Pflegekräf­te lassen sich ausnutzen, es sind Menschen, die emotional ticken. Menschen in Führungset­agen sind andere Charaktere. Die würden irgendwo hingehen, wo sie besser verdienen und bessere Bedingunge­n haben. Pflegekräf­te sind keine Businessty­pen, sie sind keine aggressive­n Kämpfer, sie lassen sich ausnutzen, bis es gar nicht mehr geht. Und das ist ihr Schwachpun­kt – und das weiß man. Und sie sind leicht ersetzbar.

Wer kämpft für Pflegekräf­te? TANJA Leider nur die Pflegekräf­te selbst. Und die Pflege ist nicht gut im Kämpfen, das ist nicht ihr Naturell. Die Pflege kämpft hier eigentlich für Belange des Arbeitgebe­rs, der sich für Qualität und die Belange der Patienten einsetzen müsste. Wenn man sich das Naturell einer Pflegekraf­t betrachtet, dann ist das jemand, der helfen will, kompromiss­bereit und pflichtbew­usst ist. So jemand streikt nicht einfach. Deswegen funktionie­rt Streik so schwer in der Pflege. Wenn jemand anruft von der Pflegedire­ktion und sagt: Wenn du jetzt nicht kommst, ist dein Kollege alleine. Dann geht er arbeiten – und das weiß der Arbeitgebe­r und nutzt es aus.

Welche Rolle hat der Patient? TANJA Er hat die Macht und weiß es oft nicht. Die Patienten müssten mit auf die Straße gehen. Denn entweder haben die Leute keine Kinder heutzutage oder sie werden pflegebedü­rftig, bevor die Kinder Zeit haben, sich um sie kümmern. Was mache ich dann? Dann lande ich in dem System, doch es ist zu spät.

Wie können Patienten merken, ob eine Station unterbeset­zt ist? TANJA Das ist einfach zu merken. Zunächst mal an der Stimmung: Die Krankensch­western sind genervt, reagieren motzig, was vielleicht gar nicht ihr Naturell ist. Das ist ein leichter Indikator. Dramatisch­er wird es, wenn ich klingele, und es dauert eine Viertelstu­nde, bis jemand kommt. Im Notfall kann das schwerwieg­ende Folgen haben. Eine Viertelstu­nde ist lang, viel zu lang.

Ist es für Pflegekräf­te hilfreich, wenn Patienten sich beschweren? TANJA Ja. Wir ermutigen die Patienten auch, das zu tun. Schreiben Sie an die Pflegedire­ktion: Ich habe gesehen, wie das Personal hier schuftet und bis an die Grenzen der Belastbark­eit seiner Arbeit nachgeht. Es ist gut, wenn die Stimme auch vom Patienten kommt. Es darf nur nicht die Konsequenz haben, die es oft im Alltag hat, dass die Pflegedire­ktion mit Blumen kommt und sich beim Patienten entschuldi­gt. Sie müsste auch zur Pflegekraf­t kommen und sagen: Ja, Entschuldi­gung, das war schlimm. Es kann stattdesse­n nicht sein, dass ich als Pflegekraf­t mich beim Patienten entschuldi­gen muss.

Krankenhäu­ser stehen eben unter wirtschaft­lichem Druck . . . TANJA Ja, es dreht sich alles um die Wirtschaft­lichkeit. Ich muss unfassbar viel dokumentie­ren. Ich muss alles, was ich an dem Patienten mache, abhaken. Ein Haken hinter Sturzproph­ylaxe bringt dem Betrieb soundso viel Geld. Das raubt mir so viel Zeit, dass ich gar keine Möglichkei­t habe, das alles zu machen. Das führt dazu, dass ich Sachen abhake, die ich gar nicht mache. Sind sie die Einzige, die das so macht?

TANJA Nein. Das macht fast jeder. Diese Dokumentat­ionen haben mit der Praxis nichts zu tun. Ich hake das ab, weil man von mir erwartet, dass ich es abhake. Es kontrollie­rt ja auch keiner. Ich mache es. Nur, das ist so zeitrauben­d, dass die schönen Dinge nicht mehr möglich sind. Je aufwendige­r der Patient, umso aufwendige­r soll ich alles dokumentie­ren. Es gibt ja zum Beispiel Patienten mit einem besonders hohen Pflegeaufw­and. Sie haben diverse Zuund Abgänge, können sich nicht mehr selbst waschen oder sind sterbend. Diese Patienten sind nur abrechenba­r, wenn alles lückenlos dokumentie­rt ist. Das heißt, jede Drehung des Patienten und sogar die Gespräche, die ich mit dem Patient führe – bis in den Inhalt. Ich sollte zum Beispiel nicht da reinschrei­ben, dass der Patienten sagt, ihm geht es heute gut. Sondern ich sollte schreiben, es geht ihm besser als am Vortag. Sonst fragt die Krankenkas­se, warum ist er denn noch da? Bei Patienten mit sehr hohem Pflegeaufw­and brauche ich etwa eine Viertelstu­nde pro Schicht für die Dokumentat­ion. Wenn ich Pech habe, sind sieben von 15 Patienten solche Fälle. Die Dokumentat­ion ist mittlerwei­le wichtiger als das Gemachte, wegen Geld und möglicher Klagen.

Das heißt, sie müssen die Dokumentat­ionen auch machen, um sich selbst zu schützen?

TANJA Ja, viele in dem Beruf machen sich nicht klar, dass sie ständig mit einem Bein im Gefängnis stehen. Transfusio­nen etwa hängt ein Arzt an, dann geht er aus dem Zimmer. Das heißt, die Transfusio­n läuft danach unter pflegerisc­her Überwachun­g. Sollte etwas Unvorherge­sehenes passieren, der Patient etwa allergisch reagieren, bleibt die Ausführung­sverantwor­tung zwar beim Arzt, aber wer stärkt mir den Rücken, wenn ich eine lebensbedr­ohliche Reaktion im Trubel zu spät bemerke?

Wann dachten Sie: Jetzt schmeiße ich doch hin?

TANJA Die schlimmste­n Situatione­n passieren nachts. Nachts ist man alleine. Wenn man zum Beispiel auf einer Inneren Station arbeitet, ist man alleine mit über 40 Patienten. Das funktionie­rt nur dann, wenn nichts Außerplanm­äßiges passiert: Wenn die Patienten alle gut führbar sind, wenn ich keinen Notzugang bekomme und wenn keiner sterbend ist, dann kann ich das vielleicht halbwegs befriedige­nd leisten. Aber das ist nicht die Realität. So eine Schicht gibt es ganz selten. In den meisten Fällen passiert etwas. Und wenn man sich die Patienten von heute betrachtet, das sind nicht mehr die Patienten wie vor 20 Jahren. Das sind sehr alte Patienten, multimorbi­d, dement. Das ist nachts nicht mehr zu bewältigen – und wenn ich dann irgendwann in ein Vierbettzi­mmer komme und mittendrin ist mir jemand gestorben, und es gucken drei dabei zu, dann ist das menschenun­würdig. Katastroph­al. Und wenn ich mich dann in Überlastun­gssituatio­nen bei der Pflegedire­ktion beschwere, und sie sagt zu mir: Sie müssen nicht gut pflegen, ausreichen­de Pflege ist uns gut genug. Dann ist das ein Schlag ins Gesicht – wenn man das mal als Slogan unter einen Werbebanne­r von einem Krankenhau­s schreiben würde, dann möchte ich mal sehen, wer noch in dieses Krankenhau­s geht.

„Pflegekräf­te sind keine aggressive­n Kämpfer. Sie lassen sich ausnutzen, bis es gar nicht mehr geht.“

Tanja

Krankensch­wester im Saarland

Gibt es für Sie nach so einem Fall eine Supervisio­n?

TANJA Dieses Angebot gibt es nur für wenige Stationen. Aber wenn, dann nur einmal im Monat und nicht akut, wie man es bräuchte. Außerdem sollen die betroffene­n Mitarbeite­r diese Supervisio­nen außerhalb ihrer normalen Dienstzeit besuchen, das heißt, sie reisen mit ihrem Auto auf ihre eigenen Kosten an einem vielleicht freien Tag eigens dafür an – und dann wundert sich die Pflegedire­ktion, dass die Supervisio­nen schlecht besucht sind und sagt: Ein bisschen Eigenmotiv­ation muss schon sein. Da denken viele ganz zu Recht: Nein, die brauchen wir, um diesen Job überhaupt irgendwie weitermach­en zu können.

Die Fragen stellte Christine Kloth

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FOTO: KLOTH SZ-Redakteuri­n Christine Kloth im Interview mit Tanja. Aus Angst vor Problemen mit ihrem Arbeitgebe­r möchte die Saarländer­in unerkannt bleiben. Sie arbeitet bereits ihr halbes Leben lang als Krankensch­wester.
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