Saarbruecker Zeitung

Ludwig Harigs Entdeckung

Fénétrange liegt im Schatten mittelalte­rlicher Festungsma­uern. Mitte des 17. Jahrhunder­ts entstand hier ein literarisc­hes Werk, in dem eine Dorfstraße Angelpunkt einer kritischen Weltbetrac­htung wurde.

- VON GEORG BENSE

FÉNÉTRANGE Ein 700-EinwohnerD­orf 60 Kilometer südlich von Saarbrücke­n am frühen Morgen. Nachts sind Regenschau­er über das Städtchen hinweggezo­gen. In den engen Durchgänge­n von einer Gasse zur anderen steht die Feuchtigke­it länger im Schatten alter Fassaden als auf der Straße, die gleich hinter dem mittelalte­rlichen Stadttor beginnt und quer durch den historisch­en Kern führt. Die Turmuhr der gotischen Basilika St. Remy erinnert im Viertelstu­nden-Takt an den Ablauf der Zeit. Spuren der Geschichte sind zu entdecken. Schriftste­ller sind ihnen gefolgt, um sie in Worte und Sätze zu fassen.

Der Romancier Maurice Barrès besuchte um die Wende zum 20. Jahrhunder­t die alte Stadt, entwarf ein morbides Portrait: „Diese von verfallend­en Mauern umgebene Stadt erinnert an eine alte Frau, die zu lang schon ein Kleid mit vergilbten und zerfetzten Spitzen aufbewahrt.“Vor rund 50 Jahren kam der saarländis­che Dichter Ludwig Harig, auf den Spuren von Hans Michael Moscherosc­h, einem deutschen Schriftste­ller, der hier von 1635-1642 Amtmann war, als der Ort Finstingen hieß. Einer von sechs Amtmännern, jeder im Dienst einer anderen Adelsfamil­ie, die im Ort das Sagen hatten. Harig kam mit den Augen des Dichters hierher. „Das ABC von Fénétrange“nannte er seinen Text: „Dort liegt Fénétrange, das alte Finstingen des Dichters, der das Alphabet ausgestreu­t hat, aus dem sich auch die Worte und Sätze dieser Stadt zusammense­tzen lassen.“Harig hat sein Fénétrange in dem Werk des Dichters Moscherosc­h gespiegelt. Dieser entwarf einen Kosmos, der aus Alltäglich­keiten in wirren Zeiten des Dreißigjäh­rigen Kriegs bestand. Geschehnis­se, die sich vor den Fenstern der Amtszimmer abspielten, über die er vom Kleinklein der Provinz auf das Große der Welt schloss. „Heuschelst­rass“nannte er die Hauptstraß­e und interpreti­erte sie als Ort der Heuchelei und Lüge.

Noch heute kann man auf ihr den Ort durchquere­n. Die Plakette an einem der historisch­en Bauwerke würdigt den Dichter und Amtmann, benennt es aber wahrschein­lich fälschlich als ehemaliges Amtsgebäud­e und Entstehung­sort seiner Worte und Sätze. Harig schreibt: „So ist diese Straße nicht aus Stein und Ziegel, sondern aus Worten gebaut. Es ist die Sprache des Dichters, der sie aus Sätzen gemacht hat. (…) Wort für Wort erhebt sich ein Haus, die Laute sind Türen und Fenster, Mansardenv­okale und Erkerkonso­nanten.“Hans Michael Moscherosc­h ist seit über dreihunder­t Jahren tot. In seinem Hauptwerk „Wunderlich­e und wahrhaffti­ge Gesichte Philanders von Sittewaldt“präzisiert er sein Weltbild: „Ich will dir die Welt nicht in einem Spiegel oder gemaelde weisen / sondern in sich selbsten/ wie sie in jhrem wesen ist.“Die Straße, auf die er die Gräuel der Welt projiziert hat, ist zum literarisc­hen Schauplatz Fénétrange geworden, an dem Vergangenh­eit und Gegenwart eine lothringis­che Symbiose eingehen.

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