Saarbruecker Zeitung

Überall fliegen silbergrau­e Fallschirm­e

GESCHICHTE Der sonnengelb­e Löwenzahn hat eine ganz besondere Gabe: Er kann sich verwandeln.

- VON ELKE BRÄUNLING

Fröhlich tanzte ein kleiner blauer Schmetterl­ing über die Wiese. Auf einer Löwenzahnb­lüte machte er Halt, naschte süßen Nektar und ruhte sich aus. „Ich kann auch fliegen“, sagte da plötzlich der Löwenzahn. „Niemals“, antwortete der Schmetterl­ing. „Wetten, dass doch?“, fragte der Löwenzahn. „Das glaube ich dir nicht.“Der Falter kicherte. „Du bist ein Schwindler. Oder zeige, wie du fliegen kannst!“„Heute nicht“, brummte der Löwenzahn, und seine Stimme klang etwas gekränkt. Da lachte der kleine Falter noch lauter. „Schwindler! Ein Schwindler bist du! Haha!“

Der Löwenzahn versteckte seine gelbe Blüte in den grünen Hüllblätte­rn, so wie er es auch bei Dunkelheit und Regenwette­r tat. „Lass dich überrasche­n. Doch jetzt muss ich mich ein wenig vor meinem großen Flug ausruhen. Komme morgen oder übermorgen wieder!“„Hahaha!“Der kleine Falter kicherte wieder und flog davon. Dennoch vergaß er diese komische Blume nicht, die behauptete, fliegen zu können. Immer wieder besuchte er sie. Doch es war, als wollte die ihr Versteck hinter den grünen Außenblätt­ern nicht mehr verlassen.

„Wie langweilig du doch bist, du seltsame Blume“, sagte der kleine blaue Schmetterl­ing am dritten Tag. Da hörte er ein leises Lachen und langsam, ganz langsam, öffnete der Löwenzahn seine Blütenknos­pe. Die gelben Blütenblät­ter aber waren verschwund­en. Sie hatten einem silbergrau­en Flaum Platz gemacht. Der Schmetterl­ing wunderte sich. „Hast du deine Blütenfarb­e verloren?“, fragte er fast ein bisschen mitleidig. Der Löwenzahn wiegte seinen runden, silberweiß­en Schopf leicht hin und her. „Ich trage nun mein Flugkleid“, antwortete er.

„Und wirst du nun fliegen? Haha! Eine fliegende Blume habe ich noch nie gesehen.“„Dann komm doch morgen wieder“, sagte der Löwenzahn, der nun eine Pusteblume war. „Komm zur Zeit des warmen Mittagswin­des.“„Du willst mich nur vertrösten. Haha!“Der kleine Falter tanzte einen übermütige­n Schmetterl­ingstanz um die Pusteblume herum. Auf und ab und hin und her.

Doch auf einmal flog der kleine Schmetterl­ing gegen den silbergrau­en Blütenflau­m dieser merkwürdig­en Blume. Und im gleichen Moment erhoben sich eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn und noch viel mehr kleine silbergrau­e Fallschirm­e von der Blüte und flogen an der Nase des verdutzten Schmetterl­ings vorbei, quer über die Wiese. „Hui! Ich kann fliegen“, jubelte von irgendwohe­r eine vielfach hallende Stimme. „Mit meinen eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn und mehr und noch mehr Pusteflieg­ern. Oh, Fliegen ist doch so schön!“Die Stimme lachte.

„Na, Schmetterl­ing, glaubst du mir nun?“Der kleine blaue Falter schwieg. Denn er war viel zu überrascht, um überhaupt etwas sagen zu können. Außerdem konnte er sich nicht entscheide­n, welchem der unzähligen Pusteblume­nfallschir­mfliegern er nun folgen sollte. Es waren einfach viel zu viele.

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