Saarbruecker Zeitung

Hat der 200-Millionen-Wahnsinn bald ein Ende?

Es wäre eine Revolution: Statt weiter zu pendeln, könnte das EU-Parlament bald nur noch in Brüssel tagen. Straßburg soll lohnend entschädig­t werden.

- VON DETLEF DREWES

BRÜSSEL Am kommenden Montag geht der europäisch­e Wanderzirk­us wieder auf die Reise: 751 Abgeordnet­e plus Mitarbeite­r, Dolmetsche­r, Journalist­en und Mitarbeite­r von Fraktionen sowie andere Helfer des Parlamente­s wechseln von Brüssel nach Straßburg. Insgesamt rund 5000 Personen. Die Akten reisen auf acht Lkw hinterher. Am Donnerstag wird der ganze Tross dann wieder nach Brüssel zurückgesc­hafft. Eine Prozedur, die sich zwölf Mal im Jahr wiederholt. Hat der Wahnsinn bald ein Ende?

Das Europäisch­e Parlament ist des Reisens und der ewigen Diskussion­en um das jährlich 200 Millionen Euro teure Pendeln längst leid. Rund 91 Prozent der Parlamenta­rier tritt mehr oder minder offen für einen dauerhafte­n Tagungsort Brüssel ein. Nun könnte ein Durchbruch möglich werden: Der Brexit macht’s möglich. Es gibt einen Plan – und der sieht so aus: Gleich zwei EU-Agenturen sollen in den kommenden Monaten aus London auf den Kontinent geholt werden. Neben der Europäisch­en Bankenkont­rolle (EBA) ist dies vor allem die wenig bekannte, aber gewichtige Europäisch­e Arzneimitt­elbehörde (EMA). Um deren Ansiedlung hatte sich jüngst auch das Saarland bemüht – die Landesregi­erung hatte eine „Riesenchan­ce“gewittert. Denn mehr als 900 Experten arbeiten dort, unterstütz­t von weiteren 95 lokalen Mitarbeite­rn. Rund 1000 Pharma-Firmen, Anwaltskan­zleien und Consulting­Experten haben sich im Umfeld angesiedel­t. Schließlic­h ist die EMA für die Zulassung neuer Medikament­e zuständig. Ein echter Zukunftsma­rkt und finanziell­er Selbstläuf­er dazu. Denn die EMA bestreitet ihren Haushalt aus den Zulassungs­gebühren der antragstel­lenden Unternehme­n.

Nicht nur das Saarland hatte Interesse bekundet – rund 40 Städte aus fast allen EU-Staaten, darunter sieben deutsche, haben sich als neue Standorte beworben. Doch das EU-Parlament hat andere Pläne. Hinter den Kulissen arbeiten Volksvertr­eter aller Fraktionen inzwischen an einem Deal, mit dem sie Frankreich­s neuen Staatspräs­identen Emmanuel Macron überzeugen wollen, die historisch­e Straßburg-Vereinbaru­ng endlich aufzugeben. Dann könnte das Parlament dauerhaft in Brüssel tagen, dafür könnte die EMA nach Straßburg in die dortigen Gebäude ziehen.

Für die Hotels, Taxi-Unternehme­n und Zulieferer der elsässisch­en Region, die bisher von den Politikern leben, wäre das wohl ein lukratives Geschäft. Denn im Gegensatz zum Abgeordnet­enhaus hat die EMA durchgehen­d geöffnet und zieht auch noch jährlich bis zu 36 000 Fachleute aus dem Pharma-Bereich an. Für Straßburg ein mehr als nur einträglic­her Tausch. Weithin unbeachtet von der Öffentlich­keit beauftragt­en die 751 Volksvertr­eter der 28 Mitgliedst­aaten bereits Ende April ihren Geschäftsf­ührer mit der Ausarbeitu­ng eines konkreten Plans und ersten Vorgespräc­hen. Offen äußern will sich bislang niemand, weil man verhindern möchte, dass der französisc­he Parlaments­wahlkampf mit einem solchen EU-Thema überlagert werden könnte. Doch die Chancen stehen offenbar gut.

Sogar französisc­he Abgeordnet­e (darunter potenziell­e Mitglieder der künftigen Macron-Regierung) unterstütz­en das Gegengesch­äft. Auch das niederländ­ische Parlament hat bereits eine zustimmend­e Resolution gefasst. Im Berliner Kanzleramt, so wird in Brüssel kolportier­t, stehe man dem Vorhaben positiv gegenüber – übrigens aus sehr pragmatisc­hen Gründen: Wenn Großbritan­nien aus der Union ausscheide­t, werden die EU-Beiträge für alle steigen. Es sei denn, man verständig­t sich auf strikte Einsparung­en. Da könnten die 200 Millionen Euro, die der Wanderzirk­us im Jahr kostet, schon ein Anfang sein. Und wohl auch ein deutliches Signal Richtung Bürger: Die EU schnallt den Gürtel enger und stellt einen zwar historisch begründete­n, aber immer noch andauernde­n Wahnsinn ab.

Das letzte Wort haben übrigens die Staats- und Regierungs­chefs. Sie müssen einstimmig eine Änderung des Parlaments­sitzes Straßburg beschließe­n und dann auch die EU-Verträge ändern. Das ist allerdings eine Operation, die die meisten Staatenlen­ker bis heute scheuen.

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FOTO: HILDENBRAN­D/DPA Ihren Straßburge­r Parlaments­sitz wollen die EU-Abgeordnet­en aufgeben. Dafür soll die EU-Arzneimitt­elbehörde einziehen.

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