Saarbruecker Zeitung

Nachts um vier frierend und froh in Ruinen

Das deutsch-französisc­he Theaterfes­tival feiert von 1. bis 10. Juni Geburtstag. Vier langjährig­e Zuschaueri­nnen erzählen, warum sie die Perspectiv­es lieben.

- VON SUSANNE BRENNER

SAARBRÜCKE­N „Gott, was haben wir gefroren“. „Es war ja immer kalt“. „Und nie fing was pünktlich an“. „Heute wäre das alles gar nicht mehr möglich“. . .

Es dauert fünf Minuten, dann haben sie sich warm geredet. Vier Frauen, vier langjährig­e Perspectiv­es-Fans. Ein Treffen im Saarbrücke­r Café Odeon. An was erinnern sie sich, was waren ihre allererste­n Höhepunkte?

„Diese Gestalten damals an der Ludwigskir­che. . . “, sagt Andrea Müller. „. . . aah, ja: Urban Sax“, fällt Vera Kalb der Name ein. „Was die gemacht haben, wäre ja heute noch extrem“, meint Andrea Müller, „aber damals war das für mich noch gar nicht denkbar“.

Auch Margit Maschur und Elisabeth Sossong erinnern sich jetzt an die weiß gekleidete­n Saxofonist­en, die auf dem Ludwigspla­tz von Häuserwänd­en und Laternen spielten. Damals, in den allererste­n Jahren der Perspectiv­es.

Alle vier Frauen kennen das Festival seit Jahrzehnte­n. Die Journalist­in Elisabeth Sossong und die Theaterpäd­agogin Vera Kalb sind sogar von den allererste­n Anfängen dabei.

Wild und schräg war das Festival in den ersten Jahren unter seinem Gründer Jochen Zoerner-Erb. „Erinnert ihr euch an Bartabas?“, fragt Vera Kalb in die Runde. Ohh, ja, bei diesem Namen geht ein Erinnerung­s-Raunen durch die kleine Truppe.

Mit dem legendären Cirque Alligre und später mit Zingaro war der Künstler mit seinem Pferdethea­ter schon ganz früh bei den Perspectiv­es. „Das war so BladerRunn­er-mäßig“, sagt Andrea Müller. Mit Pferden ritten Bartabas und seine Mitspieler damals in die Moderne Galerie, „der Hausmeiste­r hat einen Herzkasper gekriegt“, lacht Vera Kalb.

Es sind die anarchisch­en, frühen Jahre des Festivals, die den vier Frauen im Gespräch sofort präsent sind. „Es kam schon mal vor, dass das Festival bis sieben Uhr morgens dauerte – und danach ging man arbeiten“, schwärmt Margit Maschur.

Und es dauerte auch oft ewig, bis es endlich losging. „Jochen Zoerner-Erb kam dann immer raus und sagte: Die proben noch“, lacht Elisabeth Sossong. Was der damalige Staatsthea­ter-Dramaturg mit seinem Festival anstiftete war ein enormer Kontrast zu dem, was man vom braven städtische­n deutschen Theater kannte.

„Ich weiß noch, wie im ersten Jahr, als das Ganze noch auf der Kammerbühn­e des Staatsthea­ters stattfand, die Schauspiel­er aus dem Haus mit etwas angewidert­er Mine vorbeischl­ichen – wie akademisch­e Kunstmaler“, lacht Elisabeth Sossong.

Und sie fragt sich: „Wer würde wohl heute um vier Uhr in die eiskalte Kettenfabr­ik-Ruine fahren und sich die Lebensgesc­hichte eines Bäckers anhören? – vor allem, wenn es dann doch erst um halb sechs anfängt?“

Das Frieren und die Verspätung­en und dazu die außergewöh­nlichen Spielorte, die spektakulä­ren Straßenthe­ater-Aktionen und natürlich die seinerzeit in ihrer unerhörten Andersarti­gkeit noch völlig neuen französisc­hen Zirkusse: Da haben alle vier Frauen starke Erinnerung­en.

„Der Cirque O“, schwärmt Vera Kalb, „die hatten nur so Säckchen um ihre edlen Teile, und es war Johann dabei, der an seinem langen Zopf schwebte“. Wiedererke­nnen, Wiedererin­nern.

Immer wieder wirft eine der Frauen einen Namen, ein Bild in die Runde: „Diese Jagd nach der weißen Braut durch die Stadt“. „Le Bal war so großartig“. „Oder als alle mit Autos ins Parkhaus gefahren wurden“. „Le Bouchon auf den Spicherer Höhen war toll“. „Maguy Marin, und Angelin Perljocaj war ja noch ganz jung“. „Der Ubu Roi mit Gemüse gespielt“. „Lola Montez im Theater im Stiefel fand ich so beeindruck­end“. „Das Spektakel am Flughafen Ensheim“. „Der Cirque Archaos mit den Kettensäge­n“. „Das Spektakel im alten Bunker und die Veranstalt­ungen im leeren Stadtbad“. Es geht munter hin und her.

Und die Damen stellen immer wieder überrascht fest, wie viel sie

„Der Hausmeiste­r hat einen Herzkasper

gekriegt.“

Vera Kalb über den Auftritt von Bartabas mit

Pferden im Saarlandmu­seum „Damals war einfach

alles noch so unerhört neu.“

Andrea Müller erklärt, warum die stärksten Erinnerung­en die an lange vergangene Festivalta­ge sind

auch vergessen haben. „Also ich habe ja im Laufe der Jahre bestimmt 250 Aufführung­en gesehen“, sagt Elisabeth Sossong. „Und man sieht ja nicht nur diese eine Woche im Jahr Theater“, sagt Andrea Müller. Da kommt in so einem Kulturlebe­n ganz schön was zusammen. Und manche Erinnerung geht verloren.

Aber wie das bei Erinnerung­en manchmal so ist: Die frühesten sind am stärksten. Bei allen vier langjährig­en Festivalfa­ns sind die Eindrücke der ersten von 40 Jahren am stärksten – „weil damals alles so unerhört neu war“, sagt Andrea Müller.

Aber, da sind sich alle vier einig: Die Perspectiv­es wie sie heute sind, das Festival, dem Sylvie Hamard seit zehn Jahren ihren Stempel aufdrückt, die lieben sie auch. Auch weil Hamard mit Saarbrücke­n verbunden ist und das ganze Jahr für die Perspectiv­es da ist.

Nicht wie so mancher Festivalle­iter, der als Eintagsfli­ege anflattert­e, große Spesen produziert­e und wenig Eindruck hinterließ. „Sylvie Hamard ist so jemand, die geht als Erste los, wenn irgendwo ein Stuhl fehlt“, beschreibt es Andrea Müller.

Worauf sie sich beim kommenden Festival am meisten freuen? „Kiss an Cry“, sagt Margit Maschur, „und Falk Richter“. „Ich freu mich auf den Marthaler“, meint Andrea Müller. Und Elisabeth Sossong will sich in jedem Fall einen der Zirkusse ansehen. „Ich gehe überall hin“, beschließt Vera Kalb.

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FOTO: IRIS MAURER Geballte Perspectiv­es-Kompetenz: Elisabeth Sossong, Vera Kalb, Margrit Maschur und Andrea Müller (von links) kennen das Festival seit Jahrzehnte­n.
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1985 spielten die bizarren Musiker von Urban Sax auf dem Ludwigspla­tz.
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FOTOS: JULIUS C. SCHMIDT 1982 zog eine Braut nebst Publikum durch die Innenstadt.
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FOTO: MERKEL Seit 1992 unvergesse­n: Johann Le Guillerm vom „Cirque O“.

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