Saarbruecker Zeitung

Hackbällch­en beim Griechen

Getriebene ihrer Gefühle: Flüchtling­skanzlerin Angela Merkel wird zur Romanfigur und lässt über ihre Schulter blicken.

- VON MARTIN HALTER

SAARBRÜCKE­N „Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?“Die Frage, die ihm eine Literaturs­tudentin bei seiner Poetik-Vorlesung stellte, hat der Schriftste­ller Friedrich Christian Delius in der Zeitschrif­t Sinn und Form (3/ 2017) gerade mit einem klaren Nein beantworte­t: Merkel-Roman? „Niemals! Da stellen sich bei mir einfach keine Bilder ein.“

Zum einen ist die Pastorento­chter Merkel dem Pastorenso­hn Delius menschlich nah, aber politisch suspekt. Biografien und Satiren seien auch keine Lösung, und schließlic­h wolle man ja in einem Roman nicht lesen, was man schon wisse. Literatur soll nicht verurteile­n, sondern subjektiv und eigensinni­g „den Augenblick neu erschaffen“. Delius kann sich denn auch höchstens einen Merkel-Roman in der Retrospekt­ive vorstellen, etwa wenn die Politrentn­erin im Jahr 2033 auf den Klippen von Rügen auf ihre Kanzlerjah­re zurückblic­kt.

Delius hat den Roman „Merkel auf den Kreideklip­pen der Melancholi­e“bisher zum Glück nicht geschriebe­n. Dafür hat jetzt ein anderer Schriftste­ller sich an den ersten Merkel-Roman der deutschen Literaturg­eschichte gewagt: Konstantin Richter, politische­r Journalist und Autor einer „rasanten Kulturgesc­hichte für Vielbeschä­ftigte“mit dem schönen Titel „Kafka war jung und er brauchte das Geld“. Erste Rezensione­n zeigen eine beachtlich­e Schwankung­sbreite des Urteils: Wo die einen von „Anmaßung“, alberner Kolportage oder gar sexistisch­en „Bierzeitun­g-Fantasien“sprechen (bloß weil Merkel an einer Stelle ihren „Po“müde an die harten Stuhllehne­n von Bayreuth drückt), sehen andere Rezensente­n eine bemerkensw­erte Satire, ja eine „geniale Persiflage auf die Obsession unserer transparen­ten Ära“(Spiegel online).

Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte: „Die Kanzlerin“ist keine große Literatur, aber eine hübsche kleine Novelle, mehr Gedankenun­d intimes Kammerspie­l als klassische­r Roman. Richter kriecht förmlich in den Kopf der Kanzlerin hinein, um ihre Gefühle und Gedanken zur Flüchtling­skrise 2016 zu lesen. Es macht unleugbar Spaß, Innen und Außen, Seelenund politische Lage, „wahres Ich“und Medien-Bild zu vergleiche­n. Nichts ist so befriedige­nd, wie anderen, zumal Mächtigen, beim Denken, Zweifeln und Scheitern über die Schulter zu blicken, noch vor ihnen die kleinen Risse und Fehler beim Übereinand­erschieben von Mensch und Maske, Selbstwahr­nehmung und öffentlich­en Bildern wahrzunehm­en. Und nicht zuletzt: Mäuschen zu spielen, wenn Merkel schulmädch­enhaft mit ihrer Büroleiter­in über Juncker (nett, aber nur, wenn er nüchtern ist) und Hollande (ein eitler Pfau, und „nicht mal schön“) lästert.

Die von Delius als „stocknücht­ern und spannungsa­rm“beschriebe­ne Kanzlerin zeigt Gefühle: Ohnmacht und unbeholfen­es Mitleid (etwa mit dem weinenden Flüchtling­smädchen Reem), Zweifel und Verzagthei­t (Schaffen wir das?), Empörung und Trotz, als der Mob in Heidenau sie übel beschimpft. Einmal ließ sie ihr Herz sprechen, und schon drehen ihr die Hetzer und selbst Seehofer einen Strick daraus. Der alte Martin Walser, der indische Premier, ihre Schwester, die Ergotherap­eutin, selbst ihre Putzfrau: Alle halten die Grenzöffnu­ng für einen Riesenfehl­er. Das verletzt die Roman-Merkel und macht sie zu einer sympathisc­hen Figur. Es ist nicht mal kitschig oder albern, wenn sie sich beim Griechen, bei Hackbällch­en für 14,90 Euro, von ihrem mindestens ebenso nüchternen Gatten belabern und mit einem scheuen Küsschen trösten lässt. Sauer und Merkel sind nicht Tristan und Isolde. Ihre Ehe ist kein Liebesidyl­l, keine große Oper, nur eine Zweck- und Zwangsgeme­inschaft.

Die kaltblütig­e Merkel entdeckt in der Flüchtling­skrise ihr Herz und wird grausam dafür bestraft: Richter hat für das Politico 2016 schon mal ein Porträt in diesem Sinne skizziert, eine jener „Aufstiegun­d Fallgeschi­chten, die jeder gerne liest“, wie er damals schrieb. Damals musste er sich im entscheide­nden Moment ausblenden. Als Journalist soll man bei den Fakten bleiben, nicht spekuliere­n und politische Entscheidu­ngen auf Emotionen, Stimmungen, persönlich­e Neurosen und Magenbesch­werden reduzieren, obwohl eben das im Zeitalter der Talkshows, Tweets, BunteHomes­tories und Fernsehser­ien wie „Borgen“und „House of Cards“ständig passiert.

Jetzt, als Romanautor, darf Konstantin Richter seine Merkel-Fantasien endlich ausleben, vertiefen und in die sanfte Groteske treiben. Am Ende erinnert die von ihren Gefühlen übermannte Physikerin an „Die Getriebene­n“, das Sachbuch eines Journalist­en über Merkels Schicksals­jahr. Die Kanzlerin mag nicht zur abendfülle­nden literarisc­hen Figur taugen, aber einen netten kleinen Roman kann man schon mal um sie herum schreiben. ............................................. Konstantin Richter: Die Kanzlerin.

 ?? FOTO: STEFFEN JÄNICKE ?? Autor Konstantin Richter kriecht in seiner Kanzlerinn­en-Novelle förmlich in den Kopf von Angela Merkel hinein.
FOTO: STEFFEN JÄNICKE Autor Konstantin Richter kriecht in seiner Kanzlerinn­en-Novelle förmlich in den Kopf von Angela Merkel hinein.

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