Wo alles riesige Dimensionen hat
So erlebt Karlheinz Blessing, gerade 60 geworden, als Personalvorstand die Welt von Volkswagen.
WOLFSBURG Er wechselte in turbulenten Zeiten von der Saar nach Wolfsburg. Wenige Monate, nachdem die Manipulationen von VW bei der Software von Diesel-Autos aufgedeckt worden waren, trat der bisherige Chef der Dillinger Hütte und von Saarstahl, Karlheinz Blessing, den Posten als Personalvorstand bei VW an – und musste gleich einen Zukunftspakt verhandeln, der auch den Abbau Tausender Jobs vorsieht. Obwohl der Diesel-Skandal den Wolfsburger Konzern weiter stark belastet, demonstriert der Personalchef Zuversicht.
Gegen Sie und Ihren Vorgänger ermittelt die Staatsanwaltschaft Braunschweig wegen des Verdachts auf Untreue. Was sagen Sie dazu?
BLESSING Es geht um die Vergütung des Konzernbetriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh. Wir sind der Auffassung, dass sie mit den Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes im Einklang steht. Die Entgeltfindung des Unternehmens für Bernd Osterloh wurde auch durch einen externen juristischen Sachverständigen überprüft, und der kommt zu dem Schluss, dass die Eingruppierung den Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes entspricht. Die Staatsanwaltschaft muss den Sachverhalt aufgrund einer Anzeige überprüfen, und wir unterstützen sie nach Kräften. In einem Rechtsstaat ist das ein ganz normaler Vorgang.
Sie sind jetzt knapp eineinhalb Jahre bei Volkswagen: Wie sieht ein erstes Fazit aus?
BLESSING Ich bin hier angekommen. Die Herausforderungen, vor denen die gesamte Automobilbranche und damit auch Volkswagen steht, sind riesig. Aber es macht großen Spaß, gemeinsam in einem sehr guten Team die automobile Zukunft zu gestalten.
Was unterscheidet Ihre ManagerPosition als Personalvorstand von Volkswagen am stärksten von der eines Vorstandschefs zweier Stahlhütten?
BLESSING Alles, was ich mir als Manager an Wissen und Erfahrung angeeignet habe, verdanke ich der saarländischen Stahlindustrie. Im Volkswagen-Konzern erlebe ich allerdings andere Dimensionen: mehr als 620 000 Beschäftigte, weltweit 120 Produktionsstandorte, 230 Milliarden Euro Umsatz, allein im ersten Quartal dieses Jahres 4,4 Milliarden Euro Ergebnis. Das sind Zahlen, an die musste ich mich erstmal gewöhnen. Entsprechend groß ist natürlich auch die Verantwortung – und das öffentliche Interesse an allem, was sich bei Volkswagen regt. Auch daran muss man sich gewöhnen.
Haben Sie sich Volkswagen vorher so vorgestellt, wie Sie das Unternehmen vorgefunden haben?
BLESSING Viele Einzelereignisse um die Aufarbeitung des Dieselthemas waren nicht vorhersehbar, aber die wesentlichen Herausforderungen habe ich so erwartet: Es geht um die Neugestaltung der Unternehmenskultur, die Neugestaltung im Management, die Transformation des gesamten Konzerns. Das sind große Aufgaben. Aber bei Volkswagen herrscht großer Teamgeist. Deshalb macht mir die Arbeit viel Spaß. Wir kommen gut voran.
Wie groß sind Ihre Möglichkeiten, etwas in einem so großen Unternehmen zu verändern? Ist es eine Umstellung, wenn man sich mit einem Vorstandschef und zuweilen auch einem mächtigen Betriebsrat verständigen muss?
BLESSING Ich bin Teamplayer, denn ich bin überzeugt: Nachhaltige Veränderungen gelingen nur gemeinsam, im Dialog, im Ausgleich. So machen wir Volkswagen fit für die Zukunft. Mit meiner Zuständigkeit für alle Ebenen des Personals, der IT, der Organisation und der konzerneigenen Unternehmensberatung verfüge ich über alle Instrumente, die für eine Transformation notwendig sind. Trotzdem geht Transformation nur mit der Belegschaft und nicht gegen sie. Der Betriebsrat bei Volkswagen ist stark, hoch qualifiziert, kompetent und sehr verantwortungsbewusst. Deshalb ist die Mitbestimmung Partner und nicht Gegner. Sehr gut zeigt das der Zukunftspakt, den ich verhandelt habe und für dessen Umsetzung ich federführend verantwortlich bin: Der Betriebsrat schleicht sich nicht aus der Mitverantwortung, wenn es um Personalabbau geht, im Gegenzug sichert das Unternehmen Investitionen für Zukunftstechnologien an allen Standorten zu.
Was ist Ihnen in Ihrer Arbeit am wichtigsten? Wie wollen Sie als Vorstand in der Belegschaft wahrgenommen werden?
BLESSING Ich will, dass sich immer die beste Idee durchsetzt. Ich will modernisieren, aber sozial verantwortungsbewusst. Das schließt sich nicht aus. Mein Leitmotiv ist nicht Industrie 4.0, sondern darauf aufbauend Gesellschaft 5.0. Wir müssen Antworten auf die Folgen finden, die die Digitalisierung für Unternehmen und Gesellschaft haben wird. Bei Volkswagen tun wir das.
Wie weit ist der Zukunftspakt bei der Marke Volkswagen? Welches sind die nächsten Ziele? Wird es weiteren Personalabbau geben?
BLESSING Der Start war etwas holprig, aber mittlerweile sind wir voll im Plan. Allen Beteiligten ist klar: Trotz der ersten Erfolge ist der Weg noch lang und steinig, und in einzelnen Punkten sind auch künftig Konflikte möglich. Es bleibt bei den vereinbarten Zielen für die Marke, sowohl was den Abbau von 23 000 Arbeitsplätzen betrifft als auch den Aufbau von 9000 Arbeitsplätzen in Zukunftsfeldern wie Elektromobilität und Digitalisierung.
Was sind die wichtigsten Schritte, um VW an der Weltspitze zu halten?
BLESSING Die Marken des Volkswagen-Konzerns treffen mit ihren Autos den Geschmack der Kunden sehr gut. Aktuelles Beispiel ist der neue Tiguan, der sich sehr gut verkauft. Ich bin überzeugt: Auch künftig werden unsere Kunden großen Wert auf sichere, top-designte und technisch erstklassige Fahrzeuge legen. Die müssen wir zu wettbewerbsfähigen Kosten herstellen können. Nur dann können wir weiter in Zukunftstechnologien investieren und die Chancen nutzen, die der Wandel der Autoindustrie bietet.
Wie empfinden Sie den Wertewandel in der jungen Generation? Studien haben ergeben, dass viele junge Leute keinen großen Wert mehr auf das Auto als Statussymbol legen und sich stattdessen Mobilität organisieren, wenn sie sie brauchen. Sie mieten Fahrgelegenheiten, statt sich ein Fahrzeug zu kaufen. Muss das nicht die Autohersteller stark beunruhigen? Wie stellt sich VW auf solche Trends ein?
BLESSING Was Sie ansprechen, trifft sicher auf einen Teil der jungen Generation in Europa zu. Aber es gilt nicht für alle jungen Leute auf der Welt. Das heißt: Die Welt der Mobilität wird vielfältiger, und genau darauf stellen wir uns ein. Wir verstehen uns als Mobilitätsunternehmen. Unser Spektrum reicht von Autos mit hocheffizienten Verbrennungsmotoren über Hybride bis zum Elektroantrieb; es umfasst Autos mit Assistenzsystemen, hinzu kommen autonome Fahrzeuge und eine breite Palette an Mobilitätsdienstleistungen, Angebote wie Car-Sharing oder neue App-gestützte Services.
Womit gewinnen Autohersteller künftig den Kampf um Kunden?
BLESSING Kundenwünsche und -bedürfnisse werden immer differenzierter. Das betrifft nicht nur das Auto an sich, sondern ebenso damit verbundene Apps und Dienstleistungen. Das Gesamtpaket muss den Geschmack des einzelnen Kunden treffen. Wichtig ist aber, nicht jedem Trend hinterherzurennen. Wir setzen überall dort auf Digitalisierung, wo dies unseren Kunden Mehrwert bringt.
Was spricht heute für den Diesel? Ist er überhaupt ersetzbar?
BLESSING Die Zukunft fährt eines Tages elektrisch. Aber bis es so weit ist, begleiten uns noch viele Jahre lang moderne, effiziente Verbrennungsmotoren. Wir gehen davon aus, dass 2025 noch drei von vier Neuwagen mit Benzin oder Diesel angetrieben werden. Der Euro-6Dieselmotor ist einer der nachhaltigsten Antriebe, vor allem wenn er aus dem Volkswagen-Konzern kommt. Er hat große Effizienzpotenziale, und wir werden sie heben. Damit Mobilität nachhaltig und zugleich für viele bezahlbar ist, werden wir weiterhin das gesamte Antriebsspektrum bieten.
Hat technologisch „Made in Germany“heute noch im Ausland eine so hohe Anziehung wie in früheren Jahren? Nimmt diese womöglich noch zu?
BLESSING Deutsche Technologie steht unverändert hoch im Kurs. Ich gehe davon aus, dass das so bleibt. Allerdings erfordert das enorme Anstrengungen. Am Beispiel der Automobilindustrie sehen wir, wie sich das Wettbewerbsumfeld entwickelt. Früher fand der Wettbewerb innerhalb der klassischen Branche statt. Heute haben wir es zudem mit völlig neuen Herstellern von Elektroautos zu tun, auch mit wirtschaftlich sehr starken Unternehmen aus der Software- und ITBranche. Ich sehe den VW-Konzern dabei gut aufgestellt. In unseren weltweit 37 Kompetenzzentren und Digital Labs arbeiten über 2000 Experten an der Mobilität der Zukunft.
Was ist in nächster Zeit die größte Herausforderung für die deutsche Autoindustrie?
BLESSING Beim vollelektrischen Auto wird die Batterie bis zu 30 Prozent der Wertschöpfung ausmachen. Deshalb ist es wichtig, die Batterietechnologie zu beherrschen.
Welches ist privat Ihr Lieblingsauto?
BLESSING Der Golf ist das Auto, das mich in meinem Leben am meisten begleitet hat und noch immer begleitet. Ich verhehle aber nicht, dass mich auch die Sportwagenmarken in unserem Konzern besonders faszinieren.
Gibt es ein Auto, das es über Jahrzehnte geschafft hat, Kult zu sein und zu bleiben? Wenn ja, welches?
BLESSING Da gibt es sogar mehrere: Käfer, Bulli, Golf und der 911 gehören ganz sicher dazu.
Sie lieben die Herausforderung, sind auch viele Autorennen gefahren. Was macht für Sie daran den Kick aus?
BLESSING Es macht einfach Spaß, ein Rennauto schnell um die Kurve zu bewegen: den optimalen Bremspunkt erwischen, die beste Linie finden, wieder richtig herausbeschleunigen. Das sind Situationen, in denen ich den Alltag gut ausblenden kann. Ich werde versuchen, auch in diesem Jahr wieder einige Wochenenden auf der Rennstrecke zu verbringen.
Womit können Sie besonders gut entspannen?
BLESSING Im Cockpit auf der Rennstrecke.
Welche Eigenschaft schätzen Sie an einem Menschen besonders? Und warum ist das so?
BLESSING Mir ist wichtig, dass Menschen Wort halten, Teamgeist haben, sozial verantwortlich handeln. Das ist grundlegend für den Zusammenhalt. Das gilt im Kleinen wie im Großen.
Sie feierten gerade einen runden Geburtstag: Ist 60 für Sie ein besonderes Datum? Ändert sich dadurch etwas in Ihrem Leben?
BLESSING Ein einzelnes Datum oder ein runder Geburtstag ändern nichts. Mit zunehmender Zahl an Jahren gewinnt man aber an Erfahrung. Selbst weniger gute Erlebnisse haben ihr Gutes, weil man auch aus ihnen lernt, sich weiterentwickelt und die Chance hat, es beim nächsten Mal besser zu machen. Sie sehen, ich blicke lieber nach vorn. Ich hoffe, da liegen noch viele Jahre mit interessanten Aufgaben vor mir.
Blicken wir auch einen Moment auf Ihre alte Heimat: Was vermissen Sie am Saarland?
BLESSING Ich habe viele Jahre im Saarland gelebt und hier sehr gute Freunde gefunden. Deshalb vermisse ich die Menschen und ihren Umgang miteinander. Und gelegentlich vermisse ich auch das Essen.
Warum wird das Saarland häufig unterschätzt, wenn man Menschen von außerhalb befragt? Fällt Ihnen etwas Positives ein, womit man stärker werben könnte? Vielleicht haben Sie auch eine Idee, die man weiterverfolgen könnte.
BLESSING Die Saarländer sind sehr heimatverbunden, das ist sehr liebenswert. Trotzdem wäre es gut, wenn sie häufiger mal rausgingen, mal ein paar Jahre außerhalb des Saarlandes oder – wenn das möglich ist – sogar im Ausland studieren oder arbeiten und dann wieder heimkehren. Meistens bringt man dann nach einem solchen Schritt ein paar gute Ideen mit. Und manchmal weiß man dann erst richtig, was man am Zuhause hat.
„Mir ist wichtig, dass Menschen Wort halten, Teamgeist haben, sozial verantwortlich handeln.“
Karlheinz Blessing
VW-Personalvorstand