Dieses Herkunftsland ist ganz sicher ... unsicher
Wie gefährlich Afghanistan noch immer ist, zeigt nicht nur der jüngste Mord an einer Entwicklungshelferin. Die deutsche Asylpolitik sieht das aber offenbar anders.
(dpa) Ein junger Afghane meldet der Polizei zwei Taliban-Spione und bringt sich so schwer in Gefahr. Der örtliche Polizei-Kommandeur gewährt ihm Schutz – bis er getötet wird. Der junge Mann flüchtet, landet in Deutschland und beantragt Asyl. Und muss warten. Lange. Mehr als ein Jahr nach seiner Ankunft bekommt er den Bescheid vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Darin: ein klares Nein zum Schutzgesuch – und bemerkenswerte Botschaften.
In dem Zwölf-Seiten-Bescheid heißt es, es erschließe sich nicht, warum ein Schutz der Polizei nach dem Tod des Kommandeurs nicht mehr möglich gewesen sein soll. „Zudem hätte dem Antragsteller die Möglichkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative zur Verfügung gestanden.“In Kabul zum Beispiel sei die Sicherheitslage „zufriedenstellend“. Und dann noch ein Ratschlag, der zu denken gibt: „Die Inanspruchnahme internen Schutzes wird dadurch erleichtert, dass in Afghanistan kein Meldesystem existiert, so dass ein ‚Untertauchen’ insbesondere in Kabul grundsätzlich problemlos möglich ist.“Eine deutsche Behörde, die dem Fehlen offizieller Melderegister Positives abgewinnt und zum Abtauchen rät?
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl beobachtet den Umgang mit afghanischen Asylanträgen mit Sorge. Geschäftsführer Günter Burkhardt wirft dem Bundesamt vor, wegen des großen politischen Drucks möglichst schnell viele Asylanträge abzuarbeiten, würden Einzelfälle nicht mehr ausreichend geprüft. Es gebe keine „sicheren Gebiete“in Afghanistan, wie die Bundesregierung argumentiere. „Die Bedrohung dort wird kleingeredet und ignoriert.“
In einer Vielzahl offizieller Berichte wird die Lage tatsächlich anders beschrieben. Angesichts der schlechten Lage wird die Nato am Donnerstag in Brüssel sogar diskutieren, wieder mehr Soldaten nach Afghanistan zu schicken.
Der Krieg gegen die Taliban hat sich seit dem Abzug der meisten internationalen Truppen Ende 2014 rasant verschärft. Auch die Terrormiliz Islamischer Staat ist vor Ort aktiv. Die Zahl ziviler Opfer steigt jedes Jahr, vor allem unter Kindern. In den ersten vier Monaten des Jahres wurden laut UN schon knapp 1000 Kinder getötet oder verletzt – rund 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Insgesamt zählten die UN im vergangenen Jahr 11 500 zivile Opfer. Mehr als 660 000 Menschen flohen 2016 aus ihren Dörfern. 2017 sollen weitere 450 000 hinzukommen.
Die Redewendung vom sicheren Kabul, wo alle Abgeschobenen ankommen und wo viele erst einmal bleiben, hält auch kaum noch stand. Am Wochenende wurde dort eine deutsche Entwicklungshelferin getötet – von Unbekannten, die in ihr Gästehaus eindrangen. Nun geht die große Unsicherheit um unter den entsandten Helfern. Kabul ist eine nervöse Stadt mit immer mehr Stacheldrahtsperren und Sprengschutzmauern. In diesem Jahr wurden bei sieben großen Anschlägen schon hunderte Menschen getötet oder verletzt. Medien berichten oft nur noch über diese schweren Anschläge. Der Alltagsterror geht unter: Klebebomben an Polizeiautos, Schüsse von Männern auf Motorrädern auf Regierungsangestellte. Die Kidnapping-Industrie wird brutaler, Opfer sind Afghanen wie Ausländer.
Trotzdem verteidigt die Bundesregierung die Abschiebungen weiter. Sie würden „behutsam, aber konsequent“verfolgt, erklärt das Innenressort. 72 Menschen sind allein in den ersten vier Monaten des Jahres nach Afghanistan abgeschoben worden – mehr als im gesamten vergangenen Jahr (67). Im Saarland, wo Afghanistan noch im April zu einem der Hauptherkünftsländer von Flüchtlingen zählte, hat es nach Angaben des Innenministeriums in diesem Jahr noch keine Abschiebungen in das Land gegeben. Im Oktober 2016 hatten Deutschland und die EU Rücknahmeabkommen mit Afghanistan geschlossen. Seit Mitte Dezember wurden fünf Sammelabschiebungen per Charter-Flug organisiert. Und es dürften mehr werden. Allein von Januar bis April hat das Bamf rund 32 000 Asylanträge von Afghanen abgelehnt, weit mehr als 2016. Die Linke-Politikerin Ulla Jelpke sieht ein Kalkül hinter dem Trend: „Es ist offenkundig, dass die Schutzquoten im Bamf aufgrund von politischen Vorgaben sinken.“Anders sei der Rückgang trotz schlechterer Sicherheitslage nicht zu erklären.