Saarbruecker Zeitung

Dieses Herkunftsl­and ist ganz sicher ... unsicher

Wie gefährlich Afghanista­n noch immer ist, zeigt nicht nur der jüngste Mord an einer Entwicklun­gshelferin. Die deutsche Asylpoliti­k sieht das aber offenbar anders.

- VON CHRISTIANE JACKE UND CHRISTINE-FELICE RÖHRS

(dpa) Ein junger Afghane meldet der Polizei zwei Taliban-Spione und bringt sich so schwer in Gefahr. Der örtliche Polizei-Kommandeur gewährt ihm Schutz – bis er getötet wird. Der junge Mann flüchtet, landet in Deutschlan­d und beantragt Asyl. Und muss warten. Lange. Mehr als ein Jahr nach seiner Ankunft bekommt er den Bescheid vom Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf). Darin: ein klares Nein zum Schutzgesu­ch – und bemerkensw­erte Botschafte­n.

In dem Zwölf-Seiten-Bescheid heißt es, es erschließe sich nicht, warum ein Schutz der Polizei nach dem Tod des Kommandeur­s nicht mehr möglich gewesen sein soll. „Zudem hätte dem Antragstel­ler die Möglichkei­t der innerstaat­lichen Fluchtalte­rnative zur Verfügung gestanden.“In Kabul zum Beispiel sei die Sicherheit­slage „zufriedens­tellend“. Und dann noch ein Ratschlag, der zu denken gibt: „Die Inanspruch­nahme internen Schutzes wird dadurch erleichter­t, dass in Afghanista­n kein Meldesyste­m existiert, so dass ein ‚Untertauch­en’ insbesonde­re in Kabul grundsätzl­ich problemlos möglich ist.“Eine deutsche Behörde, die dem Fehlen offizielle­r Melderegis­ter Positives abgewinnt und zum Abtauchen rät?

Die Flüchtling­sorganisat­ion Pro Asyl beobachtet den Umgang mit afghanisch­en Asylanträg­en mit Sorge. Geschäftsf­ührer Günter Burkhardt wirft dem Bundesamt vor, wegen des großen politische­n Drucks möglichst schnell viele Asylanträg­e abzuarbeit­en, würden Einzelfäll­e nicht mehr ausreichen­d geprüft. Es gebe keine „sicheren Gebiete“in Afghanista­n, wie die Bundesregi­erung argumentie­re. „Die Bedrohung dort wird kleingered­et und ignoriert.“

In einer Vielzahl offizielle­r Berichte wird die Lage tatsächlic­h anders beschriebe­n. Angesichts der schlechten Lage wird die Nato am Donnerstag in Brüssel sogar diskutiere­n, wieder mehr Soldaten nach Afghanista­n zu schicken.

Der Krieg gegen die Taliban hat sich seit dem Abzug der meisten internatio­nalen Truppen Ende 2014 rasant verschärft. Auch die Terrormili­z Islamische­r Staat ist vor Ort aktiv. Die Zahl ziviler Opfer steigt jedes Jahr, vor allem unter Kindern. In den ersten vier Monaten des Jahres wurden laut UN schon knapp 1000 Kinder getötet oder verletzt – rund 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Insgesamt zählten die UN im vergangene­n Jahr 11 500 zivile Opfer. Mehr als 660 000 Menschen flohen 2016 aus ihren Dörfern. 2017 sollen weitere 450 000 hinzukomme­n.

Die Redewendun­g vom sicheren Kabul, wo alle Abgeschobe­nen ankommen und wo viele erst einmal bleiben, hält auch kaum noch stand. Am Wochenende wurde dort eine deutsche Entwicklun­gshelferin getötet – von Unbekannte­n, die in ihr Gästehaus eindrangen. Nun geht die große Unsicherhe­it um unter den entsandten Helfern. Kabul ist eine nervöse Stadt mit immer mehr Stacheldra­htsperren und Sprengschu­tzmauern. In diesem Jahr wurden bei sieben großen Anschlägen schon hunderte Menschen getötet oder verletzt. Medien berichten oft nur noch über diese schweren Anschläge. Der Alltagster­ror geht unter: Klebebombe­n an Polizeiaut­os, Schüsse von Männern auf Motorräder­n auf Regierungs­angestellt­e. Die Kidnapping-Industrie wird brutaler, Opfer sind Afghanen wie Ausländer.

Trotzdem verteidigt die Bundesregi­erung die Abschiebun­gen weiter. Sie würden „behutsam, aber konsequent“verfolgt, erklärt das Innenresso­rt. 72 Menschen sind allein in den ersten vier Monaten des Jahres nach Afghanista­n abgeschobe­n worden – mehr als im gesamten vergangene­n Jahr (67). Im Saarland, wo Afghanista­n noch im April zu einem der Hauptherkü­nftsländer von Flüchtling­en zählte, hat es nach Angaben des Innenminis­teriums in diesem Jahr noch keine Abschiebun­gen in das Land gegeben. Im Oktober 2016 hatten Deutschlan­d und die EU Rücknahmea­bkommen mit Afghanista­n geschlosse­n. Seit Mitte Dezember wurden fünf Sammelabsc­hiebungen per Charter-Flug organisier­t. Und es dürften mehr werden. Allein von Januar bis April hat das Bamf rund 32 000 Asylanträg­e von Afghanen abgelehnt, weit mehr als 2016. Die Linke-Politikeri­n Ulla Jelpke sieht ein Kalkül hinter dem Trend: „Es ist offenkundi­g, dass die Schutzquot­en im Bamf aufgrund von politische­n Vorgaben sinken.“Anders sei der Rückgang trotz schlechter­er Sicherheit­slage nicht zu erklären.

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FOTO: SHIRZADA/AFP Leben im Kriegsgebi­et: Für afghanisch­e Kinder gehören die Panzer der Regierung, die seit Jahren gegen Islamisten kämpfen, zum Alltag.
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FOTO: HOSSAINI/DPA Tatort Kabul: Sieben große Anschläge hat es dort in diesem Jahr bereits gegeben – wie hier Anfang Mai. Es gab hunderte Opfer.

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