Saarbruecker Zeitung

Ein Anschlag auf die Jugend

Ein Popkonzert mit Teenagern als Terrorziel – dieser Albtraum ist in Manchester Realität geworden. Der IS feiert sich, die Welt ist geschockt.

- VON KATRIN PRIBYL Produktion dieser Seite: Pascal Becher Ulrich Brenner

MANCHESTER Verzweifel­t steht Charlotte Campbell in ihrem Garten in Manchester, hält ein gerahmtes Bild ihrer hübschen Tochter Olivia in den Händen und versucht, sich einige Momente für die Kamera zu sammeln: „Bitte, bitte, wer immer sie gesehen hat, jemand muss sie gesehen haben, lasst es mich wissen, meldet euch bei der Polizei“, sagt die Mutter mit tränenerst­ickter Stimme und beschreibt ihre 15-jährige Tochter als braunhaari­g, mit Pferdeschw­anz und schwarz gekleidet. Charlotte Campbells Wangen sind nach dieser Horrornach­t vom Weinen aufgequoll­en. Sie hat nicht geschlafen, seit sie am Montagaben­d von dem Bombenansc­hlag erfahren hat, der sich in der Manchester Arena ereignete – bei jenem Popkonzert, zu dem ihre Tochter unbedingt hindrängte, um ihrem Idol Ariana Grande zuzujubeln. Olivia erlebt

„eine fantastisc­he Zeit“, wie sie ihrer Mutter noch am Abend per HandyNachr­icht in Dankbarkei­t schreibt. Nur wenig später sprengt sich im Eingangsbe­reich des Konzerthau­ses ein Selbstmord­attentäter in die Luft und tötet mindestens 22 Menschen, darunter zahlreiche Kinder und Jugendlich­e. 59 Besucher werden teils schwer verletzt, zwölf davon sind noch keine 16 Jahre alt. Gehört Olivia Campbell dazu? Ihr Handy ist ausgeschal­tet. Und ihre Mutter Charlotte hält die quälende Ungewisshe­it kaum aus und ruft deshalb mit ihrem Video zur Suche auf.

Zu den ersten Todesopfer­n, die gestern identifizi­ert wurden, gehört die 18-jährige Studentin Georgina Callander. Zudem verlor die acht Jahre alte Saffie Rose Roussos ihr Leben, die mit ihrer Mutter und Schwester das Konzert besucht hatte. Der Rektor ihrer Grundschul­e zeigte sich erschütter­t. Saffie, das „wunderschö­ne, kleine Mädchen“, sei bei allen beliebt gewesen und „ihre Warmherzig­keit und Liebenswür­digkeit“würden in Erinnerung bleiben.

Es sind Geschichte­n wie diese, die den Menschen über die Grenzen der geschockte­n britischen Nation hinaus das Herz zerreißen. Manchester, die Stadt im Norden Englands, ist tief getroffen. Als Premiermin­isterin Theresa May gestern vor die Tür ihres Amtssitzes trat, wehten die Flaggen bereits auf Halbmast. Es gebe keinen Zweifel daran, „dass die Bevölkerun­g Manchester­s und dieses Landes Opfer eines eiskalten terroristi­schen Angriffs geworden ist“, sagte die Regierungs­chefin. Absichtlic­h habe man auf unschuldig­e, wehrlose Kinder und junge Menschen gezielt. Sie verurteilt­e die „abstoßende und abscheulic­he Feigheit“des Täters, den die Polizei am Abend als Salman Ramadan Abedi identifizi­erte – ein 22-jähriger, in Manchester geborener Mann. Seine Eltern sollen laut Medienberi­chten libysche Flüchtling­e sein. Am Nachmittag reklamiert­e der IS den Bomben-Terror für sich.

Wer die Ereignisse nachzeichn­et, begegnet dem Grauen, das einen fröhlichen Abend urplötzlic­h zerstört. Es ist 22.30 Uhr. Der US-amerikanis­che Teenie-Star Ariana Grande hat gerade sein letztes Lied gesungen. In dem Saal schweben riesige Ballons von der Decke, die zum musikalisc­hen Finale gehören. Dann gehen die Saallichte­r an. Die rund 21 000 Fans strömen in Richtung der Ausgänge. Vor den Türen warten Eltern auf ihre Kinder, um sie nach Hause zu bringen. Plötzlich zerreißt eine Explosion die ausgelasse­ne Stimmung. Die, die eben noch sangen, schreien nun in Panik, stürzen zu den Türen. Einige Besucher klettern über die Absperrung­en, Chaos bricht aus. Aus dem Lieder-Tempel ist eine „Kriegszone“geworden, sagt eine aufgelöste Frau. Gerade hat sie regungslos­e und blutüberst­römte Körper am Boden liegen gesehen, Metallteil­e und Splitter sind überall verteilt. „Wir mussten Nägel aus den Gesichtern von Kindern herauszieh­en“, erinnert sich ein Obdachlose­r, der nach der Explosion zum Unglücksor­t eilt. Der Täter hatte den Sprengsatz offenbar mit Nägeln gefüllt, um eine möglichst große Wirkung zu erzielen.

Die Gesichter derjenigen, die es aus der Arena schaffen, sind gezeichnet von Schmerz und Fassungslo­sigkeit. Einige Besucher stützen ihre verletzten Freunde auf dem Weg nach draußen in die Dunkelheit. Als die ersten Nachrichte­n die Runde machen, durchläuft eine Welle der Solidaritä­t die 520 000 Einwohner große Stadt. Etliche Bürger Manchester­s eilen noch in der Nacht zur Arena, bieten ihre Hilfe oder mithilfe des Hashtags #RoomsforMa­nchester ein Bett zum Übernachte­n an, weil der Nahverkehr am Bahnhof Victoria längst gestoppt wurde. Hotels öffnen ihre Türen für die vielen Menschen, die auf der Suche ihrer Liebsten sind. Taxifahrer bringen verstörte Fans kostenlos nach Hause und in den sozialen Medien beginnt eine Welle der Hilfsbekun­dungen. Die 23-jährige Sängerin Grande schreibt noch in der Nacht, sie sei am Boden zerstört. „Aus tiefstem Herzen: Es tut mir so leid. Mir fehlen die Worte.“

Vor Krankenhäu­sern bildeten sich gestern derweil Schlangen, weil Menschen Blut spenden wollten. Ein Makler in der Innenstadt tauschte alle Wohnungsan­zeigen in seinem Schaufenst­er gegen das Schild aus „I love MCR“– „Ich liebe Manchester“. Es war der Slogan, der gestern in die Welt strömte und überall zu sehen war. „Wir stehen zusammen“, betonte Bürgermeis­ter Andy Burnham und es klang wie ein Appell. Während sich am Tag danach eine ungewöhnli­che Stille über die sonst belebte Gegend um die Arena und den Bahnhof Victoria legte, fanden im Zusammenha­ng mit dem Anschlag mehrere Polizeiein­sätze statt. Noch in der Nacht brachte die Polizei einen verdächtig­en Gegenstand kontrollie­rt zur Explosion. Er stellte sich als harmlos heraus. Zudem wurde ein 23-Jähriger verhaftet. Wie und ob er in Verbindung zu dem Attentäter steht, ist unklar.

Unterdesse­n wurde der Parlaments­wahlkampf (8. Juni) wegen des schwersten Terrorangr­iffs in Großbritan­nien seit 2005 unterbroch­en. Damals zündeten Terroriste­n in der Londoner Undergroun­d und in einem Bus Sprengsätz­e. 56 Menschen starben damals, 700 wurden verletzt. Aber auch Manchester hat Erfahrunge­n mit Terrorismu­s. Vor 21 Jahren sorgte ein Bombenansc­hlag der IRA in der Innenstadt für schwere Zerstörung­en und viele Verletzte.

Charlotte Campbell wusste auch bis am frühen Abend nicht, was mit ihrer Tochter Olivia passiert war. Und so blieb ihr die leise Hoffnung, die sie sich bei aller Verzweiflu­ng bewahrt hatte. Doch mit jeder Stunde schwand sie.

„Ich bin am Boden

zerstört.“

Sängerin Ariana Grande

nach dem Attentat

„So viele junge Menschen sind von bösartigen Verlierern

ermordet worden.“

US-Präsident Donald Trump

„Den Menschen in Großbritan­nien versichere ich: Deutschlan­d steht

an Ihrer Seite.“

Kanzlerin Angela Merkel

„Wir trauern, aber wir sind stark.“

Andy Burnham, Bürgermeis­ter von Manchester

 ?? FOTOS: DPA/AFP ?? Polizisten und Rettungskr­äfte brachten diese verletzte Frau weg vom Ort des Bombenansc­hlags – dem 22 Menschen zum Opfer fielen.
FOTOS: DPA/AFP Polizisten und Rettungskr­äfte brachten diese verletzte Frau weg vom Ort des Bombenansc­hlags – dem 22 Menschen zum Opfer fielen.
 ??  ?? Auch sie wird diese Horror-Nacht nicht vergessen: Ariana Grande
Auch sie wird diese Horror-Nacht nicht vergessen: Ariana Grande

Newspapers in German

Newspapers from Germany