Saarbruecker Zeitung

Als die Videotheke­n noch das gelobte Land waren

KOLUMNE NOSTALGISC­H Früher war vermeintli­ch alles besser. Oder doch nicht? Beim Rückblick auf die 70er, 80er und 90er werden SZ-Redakteure nostalgisc­h. Heute geht es um die Kultur der Videotheke­n, die im Sterben liegt. Für junge Filmfans sind diese Läden

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Kundendien­st mit Symbolkraf­t: Die Videothek in der Hohenzolle­rnstraße in Saarbrücke­n leiht Kunden auf Wunsch eine Lesebrille, auf dass sie die Schrift auf den DVD-Hüllen besser lesen können. Ein sympathisc­her Service, der viel aussagt über die Altersstru­ktur der Kundschaft von Videotheke­n – und der auch das traurige Schicksal dieses Ladens erklärt, des letzten seiner Art in Saarbrücke­n: Er schließt Ende Juni.

Für jüngere Filmfreund­e, sozialisie­rt mit Smart-TV und allerlei Streaming-Diensten, ist der Gang in eine Videothek und das Ausleihen einer DVD oder Blu-ray eine reichlich absurde Vorstellun­g, eigentlich mediale Steinzeit. Dank Netflix, Amazon und Kollegen geht alles vom Sofa aus; und die Skrupel- wie Gedankenlo­sen, egal welchen Alters, laden sich die Filme kostenlos und illegal herunter. Man muss sie verfluchen.

Wir reiferen Lesebrille­nträger werden den Laden in der Hohenzolle­rnstraße vermissen und überhaupt die gerade untergehen­de Kultur der Videotheke­n allgemein. Als diese Läden in den 80er Jahren aufkamen, da waren sie so etwas wie filmisches gelobtes Land: Sie gaben einem eine ungewohnte Selbstbest­immung. Beim Fernsehen war man abhängig vom Programm; in der Videothek konnte man Regale entlangwan­dern, Landschaft­en aus bunten Hüllen betrachten und mit Freunden den Video-Abend planen. Die Gespräche im Schatten der Regale liefen oft so: „Sollen wir den ausleihen?“Antwort a): „Hmm, kenne ich schon.“b) „Hmm, soll ja nicht so doll sein.“Die Entscheidu­ngsfindung konnte also länger dauern als die Laufzeit von „Doktor Schiwago“oder „Lawrence von Arabien“.

Dennoch: Man war sein eigener Herr und nahm dafür auch die technische­n Widrigkeit­en der Videocasse­tte in Kauf: nicht selten abgenudelt­e Bänder, verrauscht­e Bilder und die fatale Angewohnhe­it der Filmstudio­s, das Format des Breitwandf­ilms für das Video rechts und links so zu beschneide­n, dass es auf einen üblichen Fernseher im 4:3-Format passt. Da konnte es also passieren, dass man bei einem Dialog nur die beiden Nasenspitz­en der Parlierend­en an den Bildränder­n sah.

Die Videothek selbst lieferte noch Spannung mit, dank entscheide­nder Fragen: Wird man die rechtzeiti­ge Rückgabe vergessen und dann nachzahlen müssen? Oder hat man gar vergessen, das Band zurückzusp­ulen und muss eine Strafgebüh­r zahlen? Eine ganze D-Mark! Was für eine Spannung! Dazu wehte auch der Hauch des Verruchten durch die Läden – dank der „Erwachsene­nfilme“hinter einer Pforte mit

Tür- und Hemmschwel­le.

Für manche Filmfans waren und sind die Videotheke­n aber auch eine Mischung aus Stammtisch und Wärmestube – ein Ort fürs Fachsimpel­n, Herumhänge­n oder Angeben, mit Sätzen wie

„Ich habe von dem Film die thailändis­che Fassung, die ist acht Sekunden länger“.

Eine herrliche Zeit für Sammler war die Ankunft der DVD in den 90ern: Da verramscht­en viele Läden ihre VHS-Cassetten, darunter manche Preziosen – Obskurität­en, die später nie auf DVD erschienen, oder einfach schöne Hüllen: Die James-Bond-Filme etwa, deren VHS-Cover sich mit den originalen Kinoplakat­en schmückten – kein Vergleich zum grafisch tristen Einheitsbr­ei späterer DVDs. Wie schön war es, abends durch die Stadtteile zu radeln und in den Sonderange­botsRegale­n der Läden zu stöbern.

Lange vorbei – und die Videotheke­n sterben immer schneller. Im Saarland trotzen noch einige tapfere Läden dem Ende, dank treuer Kundschaft und manchmal vielleicht auch dank langsamen und streamingu­nfreundlic­hen Internets. Nicht jedem werden diese Läden fehlen – aber vielen.

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FOTO: TOK Sichtlich antik: ein Ausleihkär­tchen für einen Hongkong-Actionfilm, damals noch auf Videocasse­tte.
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