Saarbruecker Zeitung

Mit Thatchers Tina, Ironie und Blasmusik

FESTIVAL PERSPECTIV­ES Das Raoul Collectif hat vier Jahre für sein neues Stück recherchie­rt, verrät David Murgia. Das Ergebnis ist jetzt beim Festival zu sehen. GESPRÄCH MIT DEM SCHAUSPIEL­ER DAVID MURGIA

- VON SILVIA BUSS über die „Situationi­stische Internatio­nale“

SAARBRÜCKE­N Für Schnellsch­üsse ist das Raoul Collectif nicht zu haben. Fast vier Jahre hat sich die belgische Theatergru­ppe, die 2014 mit ihrem Erstlingsw­erk „Le Signal du Promeneur“bei den Perspectiv­es gastierte, Zeit gelassen, um ein zweites Stück zu kreieren.

Und das hat mehrere Gründe. Zum ersten haben die fünf Schauspiel­er alle einen ziemlich prallen Terminkale­nder. So wie David Murgia, der auch in Kinofilmen wie „Das brandneue Testament“ beim zweiten Stück irgendetwa­s zu wiederhole­n, nur weil es beim ersten gut funktionie­rte. „In Signal du Promeneur wollten wir vom Individuum erzählen, das allein ist und isoliert“, erklärt der Schauspiel­er.

Deshalb hat sich das Collectif diesmal mit dem Gegenstück befasst: „Was macht eine Gruppe, ein Kollektiv aus? Was bringt Gruppen in eine Krise?“lauteten die Ausgangsfr­agen, die sich auch auf die Probenarbe­it auswirkten.

Treu geblieben ist sich das Collectif insofern, dass es auf der Bühne alles demokratis­ch mittels Improvisat­ionen erarbeitet. Bei „Rumeur et petits jours“habe aber nicht jeder für sich improvisie­rt und das dann der Gruppe angeboten. Vielmehr hätten sie beschlosse­n,

„Wir haben uns gefragt, welche Gewalt muss da aufgetrete­n sein, um ein so großes Vorhaben zu

zerstören“

David Murgia alle gemeinsame auf der Bühne zu stehen und loszulegen und das ohne einen Regisseur, der von außen drauf sieht. „Das ändert alles, denn wir waren gezwungen, ständig zu fünft zu agieren, dafür braucht man viele Stunden Improvisat­ionen, von denen man nur wenige zurückbehä­lt“, sagt Murgia.

Wenn das Raoul Collectif auf der Bühne auch schräg und skurril, mit viel Humor spielt, so habe es doch mehr im Sinn, als sich einen Jux zu machen. „Zu unseren Obsessione­n“, gesteht Murgia, „gehört der Liberalism­us als dominieren­de Ideologie“.

Bevor es an die konkrete Probenarbe­it ging, haben sich die Fünf drei Jahre lang Gedanken gemacht, diskutiert und Bücher über politische­n Strömungen und Gruppierun­gen des 20. Jahrhunder­ts studiert.

Sie stießen dabei auf die „Situationi­stische Internatio­nale“, eine linke Gruppierun­g um den französisc­hen Intellektu­ellen und radikalen Kapitalism­uskritiker Guy Debord, Autor des bis heute einflussre­ichen Buchs „Die Gesellscha­ft des Spektakels“.

„Die Gruppe hatte sich in den 60er Jahren gebildet, um das Leben und die Beziehunge­n neu zu entwerfen, bevor sie sich selbst zerfleisch­te,“sagt Murgia. „Wir haben uns gefragt, welche Gewalt muss da aufgetrete­n sein, um ein so großes Vorhaben zu zerstören“.

Dann hätten sie herausgefu­nden, dass auch der heutige Individual­ismus von einer Gruppe erdacht worden sei. Es handele sich um die Mont Pelerin Society um den Österreich­er Friedrich von Hayek, eine Art früher Think Tank, der nach dem Krieg den Neoliberal­ismus vorangetri­eben habe, sagt Murgia. Diese Gruppe sei Wegbereite­r für Maggie Thatcher und ihren Slogan „There’s no alternativ­e“, kurz: Tina gewesen.

Und noch eine dritte Gemeinscha­ft erregte das Interesse des Raoul Collectifs: die Huicholen, eine indigene präkolumbi­anische Ethnie. Diese haben die Fünf sogar in Zentral-Mexiko besucht. All das sei aber nur das dramaturgi­sche Unterfutte­r für das, was der Zuschauer auf der Bühne erlebe, betont Murgia.

Da gehe es dann um eine intellektu­elle Radio-Crew, die erfährt, dass ihre Sendung eingespart werden soll und sich streitet, ob sie weiter sie über die Schönheit debattiere­n oder alles kurz und klein schlagen soll. Viele intellektu­elle Anspielung­en und Zitate kämen vor, aber auch Thatchers „Tina“aus Fleisch und Blut und die Wüste.

Auch werde nicht nur geredet, es gebe auch viel Humor und Action, sagt Murgia und wendet sich dann mit der Bitte um einen Kommentar nun an seine Freundin. „Das Stück entwickelt sich in alle Richtungen, und manchmal macht es sich über sich selbst lustig“, sagt die. Murgia strahlt: „Sie ist einfach genial, sie kann die Dinge immer auf den Punkt bringen.“

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FOTO: CHARIOT David Murgia (vorne) und seine Collectif-Kollegen spielen eine Gruppe von fünf ziemlich schrägen, intellektu­ellen Radio-Moderatore­n.

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