Saarbruecker Zeitung

Die Christen in Deutschlan­d sind wach geworden

LEITARTIKE­L

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Der Evangelisc­he Kirchentag in den – was die Zahl der Gläubigen angeht – eher gottlosen Städten Berlin und Wittenberg (der Lutherstad­t) war ein sehr bewusstes und auch selbstbewu­sstes Signal. Wir sind da, wir sind viele, wir lassen uns unsere Werte nicht nehmen, wir werden für eine offene Gesellscha­ft kämpfen. Nicht Angst ist unser Ratgeber. Sondern der Glaube an das Gute, also die Hoffnung. Nicht Ausgrenzun­g ist unsere Lösung. Sondern das Miteinande­r der Menschen. Das war die Botschaft. Die Prominente­ndichte – von Merkel bis Obama, von Schulz bis Steinmeier und de Maizière – war hoch und hat gezeigt: Die besten stehen hinter dieser Haltung.

„Gutmensche­n“ist neben „Lügenpress­e“und „Volksverrä­ter“einer der wichtigen verbindend­en Begriffe von Populisten, Identitäre­n und Neonazis. Es sind alles Negativbeg­riffe, weil diese Strömungen von Ab- und Ausgrenzun­g leben. Sie hassen die anderen, die die „öko“und friedferti­g sind, die gendern, die Flüchtling­en helfen, die teilen wollen, die an das Gute im Menschen glauben. Dieser Kirchtag war ein Woodstock der Gutmensche­n. Nachdenkli­ch, wo nötig, fröhlich, wo möglich. Man kann ja einmal versuchen sich auszumalen, wie ein Treffen ähnlich vieler AfDler und Pegida-Leute wohl aussehen und verlaufen würde. Dabei war die Veranstalt­ung im Jubiläumsj­ahr der Reformatio­n durchaus nicht konfliktfr­ei angelegt. Kontrovers­en wurden nicht vermieden, sondern im Gegenteil sogar gesucht. Zu den herausrage­nden Ereignisse­n gehörten die kritischen Fragen von Jugendlich­en an Barack Obama und Angela Merkel. Der Disput mit Innenminis­ter Thomas de Maizière um die Abschiebun­gen. Die Debatte mit einer Vertreteri­n der AfD und die Diskussion mit Vertretern des Islam. Und Bundespräs­ident Steinmeier beschäftig­te sich in einer bemerkensw­ert tiefen Analyse mit den Gründen dafür, dass sich immer mehr Menschen den Fakten und der Vernunft verweigern. Dieser Kirchentag wollte selbst ein Beispiel gelebter Demokratie geben und dazu gehört immer die Auseinande­rsetzung mit anderen Meinungen, der Versuch des Verstehens. Wer die einfachen Antworten ablehnt, darf sie selbst nicht geben. Ganz einfach.

Der letzte Katholiken­tag 2016 in Leipzig war bereits von einem ähnlichen Geist geprägt wie das Treffen der Protestant­en in Berlin. Das Spirituell­e, das die großen Laientreff­en beider Konfession­en früher stärker dominierte, ist einer neuen Politisier­ung gewichen. Man spürt: Die Christenhe­it in Deutschlan­d ist wach geworden. Und sie ja nicht allein. Auch die gestiegene Wahlbeteil­igung bei den letzten Landtagswa­hlen hat schon gezeigt, dass sich die Bürger allmählich bewusst werden, dass Zeiten der Polarisier­ung Engagement erfordern. Wer seine Stimme nicht erhebt (und sie bei der Bundestags­wahl nicht abgibt), überlässt sie den anderen. Manchmal hilft beten. Manchmal aber auch das klare Bekenntnis.

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