Saarbruecker Zeitung

In Kabul explodiert die Hoffnung

Ein Attentäter zündet im Berufsverk­ehr eine riesige Lkw-Bombe. Dutzende Menschen sterben bei der Attacke auf das Diplomaten- und Regierungs­viertel der afghanisch­en Hauptstadt. Auch die deutsche Botschaft wird massiv beschädigt. Wie sicher ist Kabul noch?

- VON CHRISTINE-FELICE RÖHRS

(dpa) Die Bürger Kabuls haben in diesem Jahr schon viel Grausames durchlitte­n. Terroriste­n, die sieben Stunden in einem Krankenhau­s um sich schossen und Handgranat­en in Patientenb­etten warfen – mindestens 49 Tote. Ein Angriff auf einen Nato-Konvoi inmitten des dichtesten Verkehrs – mindestens acht Tote. Ein Selbstmord­attentäter vor einem Gericht – mindestens 22 Tote. Aber die Lastwagenb­ombe, die gestern Morgen mitten im Diplomaten- und Regierungs­viertel der Hauptstadt explodiert­e, übertrifft diese Bluttaten noch an Scheußlich­keit.

Die Fakten: ein ganzer Tanklaster gefüllt mit Sprengstof­f. Eine Explosion, die Dutzende von Autos voller Zivilisten in Flammen aufgehen und ausbrennen lässt. Die Passanten zerfetzt. Und die in den umliegende­n Büros den Menschen die Splitter von Fenstersch­eiben ins Fleisch treibt. Ein Knall, der in der ganzen Stadt widerhallt und in den Menschen Angst aufflacker­n lässt: Wo sind mein Bruder, mein Vater, meine Mutter? Es ist, als hätten die Attentäter sich das blutigste denkbare Szenario ausgedacht – und es in die Tat umgesetzt.

Mindestens 90 Menschen sind tot, vermutlich mehr. 460 Menschen sind verletzt. Vor den Krankenhäu­sern bilden sich Schlangen verzweifel­ter Menschen, die ihre Angehörige­n suchen.

Wo die Attentäter mit ihrer fahrbaren Bombe hinwollten, ist noch unklar. Sie ist extrem nah an der deutschen Botschaft explodiert, aber zunächst sagt niemand, die Deutschen seien das Ziel gewesen. In unmittelba­rer Nähe gab es Ziele zuhauf: der Präsidente­npalast, Ministerie­n, das Nato-Hauptquart­ier, viele weitere Botschafte­n, aber auch große Supermärkt­e und die Büros von Mega-Unternehme­n wie die der Telekommun­ikationsfi­rma Roshan. Unter den Toten sollen viele Mitarbeite­r von Roshan sein.

Vielleicht ist die Bombe genau da in die Luft gegangen, wo sie in die Luft gehen sollte: an einer belebten Straße zwischen hohen Sprengschu­tzmauern, die die Druckwelle der Explosion kaum entweichen ließen, und wo jeden Morgen Tausende auf dem Weg zur Arbeit entlang müssen. So hätten die oder der Attentäter eine große Bandbreite von Afghanen erwischt, die für die allen Islamisten verhasste Regierung arbeiten und für die Ausländer, die von ihnen als „Besatzer“wahrgenomm­en werden. Sie haben Angst gesät in zentralen Schaltstel­len der Regierung und unter jenen, die versuchen, sie zu unterstütz­en. Die Vorstellun­g, dass die Attentäter mit so viel Sprengstof­f in das politische Zentrum des Landes fahren konnten, ist lähmend, und es wird dazu beitragen, dass die Afghanen ihre zerstritte­ne, ineffektiv­e Regierung mit noch mehr Bitterkeit betrachten. Es ist ein ultimative­s, blutiges Argument gegen den Demokratie­versuch im Land.

Gegen die Ansicht von Innenminis­ter Thomas de Maizière (CDU), dass Kabul weitgehend sicher ist auch für abzuschieb­ende Migranten, scheint der Anschlag aber nicht viel auszuricht­en. Die Narrative hat er fast jedes Mal wiederholt, wenn wieder abgelehnte Asylbewerb­er an den Hindukusch geflogen wurden. Und selbst jetzt, wo das Hauptgebäu­de der deutschen Botschaft verwüstet und von der Wucht der ungeheuren Explosion so nackt hinterlass­en wurde wie ein Rohbau, nachdem ein afghanisch­er Wächter starb und Mitarbeite­r verletzt wurden, scheint er einer Neubewertu­ng der Lage auszuweich­en. Heute sollte ein weiterer Abschiebef­lug landen. Der wurde verschoben. Nicht, weil in Kabul seit Jahresbegi­nn bei acht großen Anschlägen hunderte Zivilisten getötet oder verletzt wurden, sondern weil die Botschaft nach der Bombe Wichtigere­s zu tun hat. „Die deutsche Botschaft in Kabul hat eine wichtige logistisch­e Rolle beim Empfang rückgeführ­ter Personen vor Ort“, heißt es aus Regierungs­kreisen. „In den nächsten paar Tagen wird es daher keine Sammelrück­führung nach Afghanista­n geben.“Es bleibe aber richtig, „Ausreisepf­lichten“durchzuset­zen.

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FOTO: AFP/MARAI Bei dem verheerend­en Bombenansc­hlag in unmittelba­rer Nähe der deutschen Botschaft gingen Dutzende Autos in Flammen auf. Es gab mindestens 90 Tote und 460 Verletzte.

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