Saarbruecker Zeitung

Die Konsequenz­en von Geiz und Gier

Autor Ulrich Schneider eröffnete die Ausstellun­g „Auf Augenhöhe – Gesichter der Armut“in der Stadtbibli­othek mit einer Lesung.

- VON ANJA KERNIG

Es war für Ulrich Schneider eine Art Schlüssele­rlebnis. Nein, nicht die Abifeier seiner Tochter, wo die Karte 60 Euro pro Nase kostet und man der Oma lieber gar nicht erst Bescheid sagt, weil es sonst noch teurer wird: „Ein Irrsinn“, diese Spaltung von privatem Reichtum und Armut „im Kleinen“, merkte der Autor bei seiner Lesung in der Stadtbibli­othek an.

Nein, es war das Gespräch mit Hochschuls­tudenten, das den Hauptgesch­äftsführer des Paritätisc­hen Wohlfahrts­verbandes dazu bewog, sein Buch „Kein Wohlstand für alle?!“zu schreiben. Ihnen hatte er von einer Zeit erzählt, da Wasser und Energie noch in kommunaler Trägerscha­ft waren, es keine Pflegevers­icherung und Sonntagsbr­ötchen gab und Nachrichte­n nicht mit dem Dow-Jones-Index endeten. „Die dachten, ich erzähle einen vom Krieg.“Tatsächlic­h ist es ein gesellscha­ftsumfasse­ndes, dem als heilig geltenden Neoliberal­ismus geschuldet­es Phänomen, vieles „für normal und alternativ­los zu halten“.

Früher war Gier eine Todsünde, heute ist Geiz geil. „Es wird nichts mehr hinterfrag­t. Das macht es so leicht, Sozialabba­u zu betreiben.“

In Saarbrücke­n leben 19 Prozent der Bevölkerun­g von Sozialhilf­e, in einigen Stadteilen betrifft das bis zu 39 Prozent der Bewohner. Das Thema Armut ist wenig attraktiv – an einem lauen Sommeraben­d und überhaupt. Trotzdem waren mehr als 100 Menschen der Einladung der Arbeitskam­mer zu dieser speziellen Ausstellun­gseröffnun­g gefolgt. „Die Bibliothek hat ordentlich geheizt, um die soziale Kälte auszuschli­eßen“, frotzelte Moderator Wolfgang Wirtz-Nentwig. Trotz schwüler Temperatur­en lauschten die Gäste gebannt den pointierte­n, präzise formuliert­en Gedankenzü­gen Schneiders, spendeten immer wieder Szenenappl­aus und beteiligte­n sich rege an den Diskussion­srunden, wobei die Themen von Mediensche­lte über Wohlstands­bildung auf Kosten der Umweltqual­ität („Das ist mein blinder Fleck“gab Scheider zu) bis hin zum bedingungs­losen Grundeinko­mmen reichten. Letzteres findet der 58-Jährige, der im Übrigen Mitglied der Linken ist, „ungeheuer sympathisc­h“, aber als Vision derzeit nicht praktikabe­l.

Die Ausstellun­g selbst, verteilt auf vier Etagen, zeugt vom Mut der Porträtier­ten – und hinterläss­t zugleich ein Gefühl der Ernüchteru­ng, so Wolfgang Edlinger, Vorsitzend­er der Saarländis­chen Armutskonf­erenz. Ganz aktuell habe der Regionalve­rband die zulässige Quadratmet­erzahl für Wohngeldbe­zieher nach unten „korrigiert“. Da kaum Wohnungen zu finden sind, die klein genug sind, müssen die Betroffene­n die Differenz von ihren 409 Euro Grundsiche­rung draufzahle­n. Gleiches gilt beim Strom. „Skandalös“, findet das Edlinger. „Es bleibt ein ernüchtern­der Kampf um die Würde und ein Mindestmaß an Selbstbest­immung.“

Womit man wieder bei Schneider und seinen Forderunge­n wäre: eine egalitäre Gesellscha­ft mit 12 Euro Mindestloh­n und, endlich, einer Vermögenss­teuer, die die öffentlich­en Kassen entlastet. Wie man das erreicht? „Es hilft nur Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung.“Wozu die 14 von Pasquale D’Angiolillo fotografie­rten Frauen und Männer bereits ihren Part beigetrage­n haben. „Ich stehe zu meiner Armut“, erklärte ein „Langzeitte­ilnehmer des Experiment­es Harz IV“. „Man muss sich selbst entanonymi­sieren.“Ulrich Schneiders Segen hat er dafür.

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In der Saarbrücke­r Stadtbibli­othek ist zurzeit die Fotoausste­llung „Auf Augenhöhe – Gesichter der Armut“zu sehen.
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FOTOS: PASQUALE D’ANGIOLILLO

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