Erzähl mir Europa!
Erschütternd intensiv oder einfallslos? In Milo Raus Doku-Stück „Empire“legen Schauspieler Lebensbeichten ab. Das Gastspiel bei den Perspectives lud zu Pro und Contra ein.
Nichts beglaubigt einen Festival-Beitrag mehr als solcherart Szenen: Nach dem Schlussapplaus bleiben Menschen eine ganze Weile alleine schweigend sitzend, während sich um sie herum intensive Zwiegespräche entwickeln und vor der Theatertür debattierende Grüppchen stehen. Was ungefähr das bedeutet: Den schnellen Druck auf den „Mag-ich“- oder „Mag-ichnicht“-Button gibt es nicht. Das Dokumenartheaterstück „Empire“(2016) des derzeit immens gefragten Schweizer Theatermachers Milo Rau gehört in diese Kategorie.
Es ist der letzte Teil einer Trilogie, mit der Rau – Inhaber der Saarbrücker Poetikdozentur – die kulturellen Wurzeln Europas erforschen wollte. Er tut dies anhand von authentischen Familiengeschichten und Biografien, die von Zwangsherrschaft, Flucht und Vertreibung, Krieg und Folter, zerrissenen Familienbanden, von Exil und Neubeginn künden – Weltgeschichte und Weltpolitik, die sich im höchst Individuellen spiegelt. Bei Rau liefern 13 veritable Schauspieler aus elf Ländern das Material. Vier davon traf man am Mittwochabend beim „Empire“-Gastspiel in der Alten Feuerwache. Zwei davon – die jüdische Rumänin Mia Morgenstern und der Grieche Akillas Karazissi – repräsentieren das historische „alte Europa“, mit Nazi- und Ceausescu-Diktatur, griechischer Militär-Junta, dazu RAF und das Kino von Fassbinder und Angelopoulos.
Für das Europa der Gegenwart, das der Flüchtlinge, stehen die Syrer Rami Khalaf und Ramo Ali, der aus dem kurdischen Dorf Qamishli stammt. In Alis enger, übermöblierter Wohnküche spielt „Empire“, wobei das Wort in die Irre führt bei einem Stück, das keine Handlung zulässt, sondern nur Erzähltheater liefert und groß gezoomte Filmbilder, hauptsächlich Riesenaufnahmen der Schauspieler-Gesichter, mitunter auch Straßenkarten, Erinnerungsfotos, schließlich Abbildungen aus dem Internet von unter Assad zu Tode gefolterten Männern. Unter 12 000 Gesichtern suchte der nach Paris geflohene Khalaf, Sohn eines syrischen Militärs, das seines Bruders, mit dem er sich über Glaubensfragen entzweit hatte. – Eine schwer erträgliche Sequenz im ansonsten eher lakonisch grundierten Abend, über dem dennoch eine Firnis von Trauer und Bedrücktheit liegt. Trotzdem wird hier nichts aufgebauscht, das schwere Schicksal trägt ein gemächlicher Erzählfluss. Fünf lange Akte mutet Rau uns zu, unter den Titeln „Abstammungslehre“oder „Heimkehr“. Die Schauspieler berichten rein und klar, erzeugen hohe Intensität und Intimität. Ist Rau bei Peter Brook, dem Prediger der Einfachheit, in die Lehre gegangen? Der setzte allein auf Prägnanz und Präsenz der Darsteller. Ein mitreißendes Fest wurde es selbst bei Brook nicht immer. In „Empire“erzeugt die brave Hintereinanderreihung der Lebensbeichten Ermüdung, es fehlen Wendepunkte und Überraschungsmomente. Kurz: Man vermisst theatralische Raffinesse.
Aber zumindest ist das alles dann doch „Erschütterungstheater“, wie es ein Rezensent nach der Uraufführung notierte? Mit diesem Begriff tut man Rau, der dem Theaterbetrieb intellektuell vorweg stürmt, nichts Gutes. Will er uns wirklich hineinsaugen in die seelischen und existenziellen Nöte seiner Identitätsspieler? Das Bedienen unseres Voyeurismus und der Gefühlsentlastungs-Maschine Theater wären einem politischen Kopf wie ihm zu billig.
„Wer schlug, wird geschlagen. / Wer traf, wird getroffen. / Fest klebt das Unheil / An der Menschen Geschlecht.“
Medea, zitiert in „Empire“