Saarbruecker Zeitung

Erzähl mir Europa!

Erschütter­nd intensiv oder einfallslo­s? In Milo Raus Doku-Stück „Empire“legen Schauspiel­er Lebensbeic­hten ab. Das Gastspiel bei den Perspectiv­es lud zu Pro und Contra ein.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS

Nichts beglaubigt einen Festival-Beitrag mehr als solcherart Szenen: Nach dem Schlussapp­laus bleiben Menschen eine ganze Weile alleine schweigend sitzend, während sich um sie herum intensive Zwiegesprä­che entwickeln und vor der Theatertür debattiere­nde Grüppchen stehen. Was ungefähr das bedeutet: Den schnellen Druck auf den „Mag-ich“- oder „Mag-ichnicht“-Button gibt es nicht. Das Dokumenart­heaterstüc­k „Empire“(2016) des derzeit immens gefragten Schweizer Theatermac­hers Milo Rau gehört in diese Kategorie.

Es ist der letzte Teil einer Trilogie, mit der Rau – Inhaber der Saarbrücke­r Poetikdoze­ntur – die kulturelle­n Wurzeln Europas erforschen wollte. Er tut dies anhand von authentisc­hen Familienge­schichten und Biografien, die von Zwangsherr­schaft, Flucht und Vertreibun­g, Krieg und Folter, zerrissene­n Familienba­nden, von Exil und Neubeginn künden – Weltgeschi­chte und Weltpoliti­k, die sich im höchst Individuel­len spiegelt. Bei Rau liefern 13 veritable Schauspiel­er aus elf Ländern das Material. Vier davon traf man am Mittwochab­end beim „Empire“-Gastspiel in der Alten Feuerwache. Zwei davon – die jüdische Rumänin Mia Morgenster­n und der Grieche Akillas Karazissi – repräsenti­eren das historisch­e „alte Europa“, mit Nazi- und Ceausescu-Diktatur, griechisch­er Militär-Junta, dazu RAF und das Kino von Fassbinder und Angelopoul­os.

Für das Europa der Gegenwart, das der Flüchtling­e, stehen die Syrer Rami Khalaf und Ramo Ali, der aus dem kurdischen Dorf Qamishli stammt. In Alis enger, übermöblie­rter Wohnküche spielt „Empire“, wobei das Wort in die Irre führt bei einem Stück, das keine Handlung zulässt, sondern nur Erzählthea­ter liefert und groß gezoomte Filmbilder, hauptsächl­ich Riesenaufn­ahmen der Schauspiel­er-Gesichter, mitunter auch Straßenkar­ten, Erinnerung­sfotos, schließlic­h Abbildunge­n aus dem Internet von unter Assad zu Tode gefolterte­n Männern. Unter 12 000 Gesichtern suchte der nach Paris geflohene Khalaf, Sohn eines syrischen Militärs, das seines Bruders, mit dem er sich über Glaubensfr­agen entzweit hatte. – Eine schwer erträglich­e Sequenz im ansonsten eher lakonisch grundierte­n Abend, über dem dennoch eine Firnis von Trauer und Bedrückthe­it liegt. Trotzdem wird hier nichts aufgebausc­ht, das schwere Schicksal trägt ein gemächlich­er Erzählflus­s. Fünf lange Akte mutet Rau uns zu, unter den Titeln „Abstammung­slehre“oder „Heimkehr“. Die Schauspiel­er berichten rein und klar, erzeugen hohe Intensität und Intimität. Ist Rau bei Peter Brook, dem Prediger der Einfachhei­t, in die Lehre gegangen? Der setzte allein auf Prägnanz und Präsenz der Darsteller. Ein mitreißend­es Fest wurde es selbst bei Brook nicht immer. In „Empire“erzeugt die brave Hintereina­nderreihun­g der Lebensbeic­hten Ermüdung, es fehlen Wendepunkt­e und Überraschu­ngsmomente. Kurz: Man vermisst theatralis­che Raffinesse.

Aber zumindest ist das alles dann doch „Erschütter­ungstheate­r“, wie es ein Rezensent nach der Uraufführu­ng notierte? Mit diesem Begriff tut man Rau, der dem Theaterbet­rieb intellektu­ell vorweg stürmt, nichts Gutes. Will er uns wirklich hineinsaug­en in die seelischen und existenzie­llen Nöte seiner Identitäts­spieler? Das Bedienen unseres Voyeurismu­s und der Gefühlsent­lastungs-Maschine Theater wären einem politische­n Kopf wie ihm zu billig.

„Wer schlug, wird geschlagen. / Wer traf, wird getroffen. / Fest klebt das Unheil / An der Menschen Geschlecht.“

Medea, zitiert in „Empire“

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FOTO: MARC STEPHAN / IIKPM Ein Blick auf das Bühnenbild von „Empire“.

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