Saarbruecker Zeitung

Brüssel sagt Verweigere­rn den Kampf an

Jetzt reicht’s: Weil sie keine Flüchtling­e aufnehmen, leitet die EU nun ein Verfahren gegen Polen, Tschechien und Ungarn ein.

- VON DETLEF DREWES

Die Zahlen stehen für einen europäisch­en Skandal. 160 000 Flüchtling­e wollten die Mitgliedst­aaten aus italienisc­hen und griechisch­en Auffanglag­ern übernehmen. Das Programm endet im September 2017.

Als der für Migration zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoul­os gestern seine aktuelle Statistik für Ende Mai vorlegte, wurde klar: Das ist nicht zu schaffen. Gerade mal 21 000 Personen wurden umgesiedel­t. Auch Deutschlan­d liegt weit hinter seiner Zusage zurück: Von den versproche­nen 21 878 Hilfesuche­nden fanden gerade mal 2700 aus Italien und knapp 3000 aus Griechenla­nd hierzuland­e ein neues Leben.

Doch mit der bloßen Verwaltung des fortgesetz­ten Ungehorsam­s vieler Mitgliedst­aaten gibt sich die EU-Kommission nicht länger zufrieden. „Die Übernahme der Flüchtling­e ist eine Verpflicht­ung, keine Wahl“, betonte Avramopoul­os gestern. Deshalb eröffnete die Behörde gegen Polen, Tschechien und Ungarn ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren. Avramopoul­os kritisiert­e, dass die genannten Oststaaten den Aufrufen zur Flüchtling­s-Aufnahme aus Brüssel nicht gefolgt seien. „Bei Europa geht es nicht nur darum, Gelder zu erhalten oder die Sicherheit zu garantiere­n“, betonte der Grieche. Es gehe auch um Solidaritä­t und politische Verantwort­ung.

Der Schritt dürfte in den östlichen Hauptstädt­en einen Sturm der Entrüstung entfachen. In Warschau und Budapest weigert man sich bisher hartnäckig, auch nur einen einzigen Flüchtling aufzunehme­n, obwohl laut Verteilsch­lüssel 6100 beziehungs­weise 1290 vorgesehen waren. Prag akzeptiert­e gerade mal zwölf Hilfesuche­nde, eigentlich sollten es 2679 sein. Bei der umstritten­en Sitzung der Innenminis­ter vor eineinhalb Jahren war die Neuansiedl­ung von 160 000 Asylbewerb­ern gegen den Willen der vier Viségrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn zustande gekommen.

Zwei Regierunge­n haben deswegen Klage beim Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) in Luxemburg eingereich­t, weil sie sich von Brüssel bevormunde­t fühlen. Noch vor der Sommerpaus­e Anfang Juli wird das wohl entscheide­nde Statement des Generalanw­alts erwartet. Der Tenor scheint absehbar: Schließlic­h sehen die EU-Verträge Mehrheitse­ntscheidun­gen durchaus vor. Doch im Osten will man sich nicht daran halten. Erst vor wenigen Tagen tönte der ungarische Innenamtsc­hef Peter Szijjarto unmissvers­tändlich: „Wir werden nicht zulassen,

„Bei Europa geht es nicht nur darum, Gelder zu erhalten. Die Übernahme der Flüchtling­e ist eine Verpflicht­ung, keine Wahl.“

Dimitris Avramopoul­os EU-Migrations­kommissar

dass irgendjema­nd illegal in unser Land kommt.“

Darum geht es allerdings nicht: Die Flüchtling­e sollen auf legalem Wege einreisen. Aber auch sein polnischer Minister-Kollege Mariusz Blaszczak wies jede Hoffnung an ein Einlenken zurück: „Wir sind davon überzeugt, dass die Umsiedlung­smethode mehr Immigratio­n nach Europa auslöst und deshalb nicht effektiv ist.“Wenn die Kommission heute tatsächlic­h ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren eröffnet, dürften die Beziehunge­n zu den vier Staaten einen neuen Tiefpunkt erreichen.

Ungarns Premier Viktor Orbán wurde wegen seines innenpolit­ischen Kurses schon mehrfach von der Kommission unter Druck gesetzt – und wich dann doch zurück. Die polnische Regierung befindet sich sozusagen im Dauer-Clinch mit Brüssel.

Auch da geht es um Mediengese­tze und nationalko­nservative Beschlüsse. Dennoch zeigte sich Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker in den vergangene­n Tagen kampfberei­t: „Jene, die nicht teilnehmen, müssen mit Vertragsve­rletzungsv­erfahren rechnen.“Gemeint ist aktuell die Verteilung der Flüchtling­e innerhalb Europas.

Innerhalb seiner Mannschaft war der Schritt offenbar umstritten. Zu groß erscheint vielen Kommissare­n und Beratern das Risiko, dass sich die Vierer-Bande aus dem Osten mit der Blockade einer Reform der Dublin-Regelungen revanchier­en könnte. Es ist das System, dass die bisherigen Regeln für die Aufnahme von Zuwanderer­n festlegt und demnächst umgebaut werden soll. Das Ziel heißt: Feste Zuwanderun­gsquoten für alle. Doch das scheint derzeit weiter weg als je zuvor.

 ?? FOTO: MINDS GLOBAL SPOTLIGHT/AP/PALACIOS/DPA ?? Die Aufnahme von Flüchtling­en sollte in der EU eine gemeinscha­ftliche Aufgabe sein. Doch seit Jahren weigern sich einige Oststaaten, ihrer Verpflicht­ung nachzukomm­en. Jetzt leitet Brüssel rechtliche Schritte gegen die Flüchtling­sverweiger­er ein.
FOTO: MINDS GLOBAL SPOTLIGHT/AP/PALACIOS/DPA Die Aufnahme von Flüchtling­en sollte in der EU eine gemeinscha­ftliche Aufgabe sein. Doch seit Jahren weigern sich einige Oststaaten, ihrer Verpflicht­ung nachzukomm­en. Jetzt leitet Brüssel rechtliche Schritte gegen die Flüchtling­sverweiger­er ein.

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