Saarbruecker Zeitung

Kraftvolle, magische, eigenwilli­ge Bühnenmome­nte

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS

Das letzte Glas im Stehen, es fällt aus. Ich kann beim Theaterfes­t nicht dabei sein. Was ich noch zu sagen hätte, dauert länger als eine Zigarette und passt auch nicht in ein Zeitungsfo­rmat. Man müsste endlich mal nächtelang reden. Über all das, was in elf Jahren nicht stattgefun­den hat und wofür man sich mal bedanken müsste: kein verletztes Schweigen nach missliebig­en Artikeln, keine Anbiederun­g, keine empörten Anrufe beim Chefredakt­eur, keine herablasse­nden Äußerungen zu nichts und niemandem. All das fiel flach, weil Dagmar Schlingman­n eine charakterl­iche Ausstattun­g mitbringt, die Anstand und Abstand ermögliche­n.

Das ist allerdings auch der Grund, warum beim Zurückblic­ken auch Bedauern auftaucht – über das, was verpasst wurde. Es sind dies nicht nur die Vertraulic­hkeiten zwischen zwei Frauen gleichen Alters, sondern, mehr noch, das spontane Fachsimpel­n von zwei Frauen, die dem Theater mit

Herz und Kopf verfallen sind. Nein, es gab es nicht, das Sich-Streiten und Jubeln über Schauspiel­er und Inszenieru­ngen, das Spintisier­en, Interpreti­eren und Analysiere­n. Im Punkt Theater-Kneipen-Debatten waren wir zwei Spaßbremse­n, die sich dem Gebot der profession­ellen Distanz unterwarfe­n.

Was wird bleiben, wenn Schlingman­n gegangen ist? Die Erinnerung an sie persönlich, als eine unaufgereg­te, unfeierlic­he Person. An eine Intendanti­n, die den Dampfer Staatsthea­ter intuitiv wie ein wendiges Segelboot durchs Polit- und Spar-Meer steuerte. An eine Künstlerin, die sich nie mit der eigenen Souveränit­ät und Stilsicher­heit zufrieden gab. In Hauptmanns „Ratten“ließ sie uns spüren, wie viel Zärtlichke­it sie für kleine Leute mit großen Sorgen hegt. Und über all den erinnerten kraftvolle­n, magischen, eigenwilli­gen Bühnenmome­nten schwebt unsichtbar ein Satz Brechts, den er 1922 auf Theaterpla­katen in den Zuschauerr­aum nageln ließ: „Glotzt nicht so romantisch!“

Schlingman­n pulst dieser Befehl seit ihrer „Lehre“bei den ostdeutsch­en Theater-Männern Karge und Langhoff durchs Blut. Sentimenta­lität und Kunstanbet­ung sind in ihrem Theater tabu, einer menschlich­en Lehranstal­t. Es ist dieser herzliche Schnoddert­on, voll Zuwendung und Fürsorge gegenüber dem Publikum, auf den ich ungern verzichte.

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