Kraftvolle, magische, eigenwillige Bühnenmomente
Das letzte Glas im Stehen, es fällt aus. Ich kann beim Theaterfest nicht dabei sein. Was ich noch zu sagen hätte, dauert länger als eine Zigarette und passt auch nicht in ein Zeitungsformat. Man müsste endlich mal nächtelang reden. Über all das, was in elf Jahren nicht stattgefunden hat und wofür man sich mal bedanken müsste: kein verletztes Schweigen nach missliebigen Artikeln, keine Anbiederung, keine empörten Anrufe beim Chefredakteur, keine herablassenden Äußerungen zu nichts und niemandem. All das fiel flach, weil Dagmar Schlingmann eine charakterliche Ausstattung mitbringt, die Anstand und Abstand ermöglichen.
Das ist allerdings auch der Grund, warum beim Zurückblicken auch Bedauern auftaucht – über das, was verpasst wurde. Es sind dies nicht nur die Vertraulichkeiten zwischen zwei Frauen gleichen Alters, sondern, mehr noch, das spontane Fachsimpeln von zwei Frauen, die dem Theater mit
Herz und Kopf verfallen sind. Nein, es gab es nicht, das Sich-Streiten und Jubeln über Schauspieler und Inszenierungen, das Spintisieren, Interpretieren und Analysieren. Im Punkt Theater-Kneipen-Debatten waren wir zwei Spaßbremsen, die sich dem Gebot der professionellen Distanz unterwarfen.
Was wird bleiben, wenn Schlingmann gegangen ist? Die Erinnerung an sie persönlich, als eine unaufgeregte, unfeierliche Person. An eine Intendantin, die den Dampfer Staatstheater intuitiv wie ein wendiges Segelboot durchs Polit- und Spar-Meer steuerte. An eine Künstlerin, die sich nie mit der eigenen Souveränität und Stilsicherheit zufrieden gab. In Hauptmanns „Ratten“ließ sie uns spüren, wie viel Zärtlichkeit sie für kleine Leute mit großen Sorgen hegt. Und über all den erinnerten kraftvollen, magischen, eigenwilligen Bühnenmomenten schwebt unsichtbar ein Satz Brechts, den er 1922 auf Theaterplakaten in den Zuschauerraum nageln ließ: „Glotzt nicht so romantisch!“
Schlingmann pulst dieser Befehl seit ihrer „Lehre“bei den ostdeutschen Theater-Männern Karge und Langhoff durchs Blut. Sentimentalität und Kunstanbetung sind in ihrem Theater tabu, einer menschlichen Lehranstalt. Es ist dieser herzliche Schnodderton, voll Zuwendung und Fürsorge gegenüber dem Publikum, auf den ich ungern verzichte.