Saarbruecker Zeitung

Ein Mann der Einheit, der ein Land polarisier­te

Kohls Werk für Deutschlan­d und Europa wurde erst spät gewürdigt.

- VON WERNER KOLHOF

Als Helmut Kohl öffentlich die Selbstbehe­rrschung verlor, stand ich neben ihm. Die Sicherheit­sbeamten wussten nicht, dass ich Journalist war und hielten mich für einen der ihren. Am 10. Mai 1991 wartete in Halle auf dem Marktplatz eine große Menschenme­nge auf den Kanzler. Viele mit Deutschlan­d-Fähnchen. Helmut Kohl ging winkend zum Absperrgit­ter, wollte Hände schütteln, als die Eier flogen. Wütend wollte sich Kohl die Werfer packen. Zwei Bodyguards zerrten ihn zurück. Immer wieder versuchte er sich ihrem Griff zu entwinden, um sich zu prügeln. Irgendwie gelang es, den Kanzler ins Rathaus zu bugsieren, in die Toilette. Vor dem Spiegel, ich stand hinter ihm, machte er sich sauber und brüllte: „Gies. Gies. Kommen Sie her. Was haben Sie sich dabei gedacht?“Gerd Gies hieß damals der Ministerpr­äsident von Sachsen-Anhalt. Er stammelte: „Weiß ich auch nicht, Herr Bundeskanz­ler…“

Es ist eine Szene, die viel über Kohl sagt. Er ließ sich nichts gefallen. Gegner packte er bei den Hörnern. Am liebsten die Linken, denen gegenüber er ein tiefes Feindbild pflegte. Was auf Gegenseiti­gkeit beruhte. Die Szene sagt aber auch viel über seinen Umgang mit den Politikern im Osten aus. Mit einem Federstric­h hatte er im März 1990, kurz vor der ersten demokratis­chen Volkskamme­rwahl, die ehemaligen Blockparte­ien zur „Allianz für Deutschlan­d“verschmolz­en und der CDU einverleib­t. Nicht nur Gies, auch Angela Merkel landete so in der Union.

Kohl war der Heilsbring­er für die einen im Osten und die alles platt machende Dampfwalze für die anderen. In keiner Entscheidu­ng war diese gegensätzl­iche Wahrnehmun­g des Kanzlers so angelegt, wie in dem von ihm gegen den Willen der Bundesbank durchgeset­zten Umtauschku­rs von 1:1 für die DDR-Mark. Das wollten die Menschen im Osten und Kohl wollte es, weil nur so die erste gesamtdeut­sche Wahl zu gewinnen war. Der Preis aber war der Zusammenbr­uch der DDR-Wirtschaft. Kohl schuf anschließe­nd im Westen eine Art Schneeball­system, um das neue Verspreche­n der blühenden Landschaft­en zu finanziere­n. Einheit auf Pump. 1998 wurde er auch deshalb abgewählt.

Historisch bleibt jener Auftritt am 19. Dezember 1989 vor der Frauenkirc­he in Dresden, als sie ihm zujubelten wie einem Messias, und als die Losung kippte von „Wir sind das Volk“zu „Wir sind ein Volk“. Kohl dämpfte damals die aufkommend­e nationale Stimmung, wissend, dass über die Einheit nicht nur hier auf den Straßen und Plätzen entschiede­n wurde, sondern mehr noch an den Verhandlun­gssälen mit den Vertretern Moskaus, Paris’, Londons und Washington­s. Neun Tage später veröffentl­ichte er ein „Zehn-Punkte-Programm“für Deutschlan­d und setzte den Zug der Wiedervere­inigung in Bewegung. Er machte ein Tempo und überrannte so die Skeptiker. Die Einheit Deutschlan­ds und ihre Einbettung in Europa, die erst die Zustimmung der alten Siegermäch­te ermöglicht­e, war die Leistung seines Lebens. Er wurde dafür mit Ehrungen überhäuft – nach seiner Amtszeit.

Diese Anerkennun­g hat Kohl in der Innenpolit­ik nie erfahren, und das ist nach 16 Jahren Kanzlersch­aft erstaunlic­h. Aber er polarisier­te von Anfang an. Die Sozialdemo­kraten hetzten gegen ihn, weil er Helmut Schmidt die Kanzlersch­aft angeblich gestohlen hatte, zusammen mit den „Verrätern“von der FDP. Und er hetzte gegen die „Sozen“. Die Friedensbe­wegten lehnten ihn ab, weil er den Nato-Doppelbesc­hluss umsetzte. Die Gewerkscha­ften, weil er vom Freizeitpa­rk Deutschlan­d gesprochen hatte. Viele politische Leichen pflasterte­n seinen Weg, auch in der CDU, die er kontrollie­rte. Etwa Kurt Biedenkopf, der gegen ihn 1989 zu putschen versuchte, ebenso Heiner Geißler und Wolfgang Schäuble.

Er ist als „Birne“verspottet worden, wegen seines Auftritts mit Ronald Reagan an den Soldatengr­äbern von Bitburg karikiert und wegen der „Gnade der späten Geburt“, von der er 1984 in der Knesseth sprach, kritisiert. Aber er war 25 Jahre CDU-Vorsitzend­er, 26 Jahre Bundestags­abgeordnet­er, 16 Jahre Kanzler. Das ist man nicht aus Zufall. Nie in dieser gewaltigen Zeit hat er so etwas wie Anerkennun­g oder Respekt bei den Intellektu­ellen gewonnen. Aber immer alle Wahlen.

Neun Jahre später, am 30. November 2000, stand ich wieder als Journalist in der Nähe Kohls, diesmal in der Buchhandlu­ng Dussmann in Berlin. Der Altkanzler signierte sein „Tagebuch“und wirkte fröhlich. Plötzlich Tumult. Ein junger Mann hatte einen Windbeutel auf Kohl geworfen. „Der Pöbel ist wirklich überall“, schimpfte er und machte sich wieder sauber.

Zuletzt wirkte er immer bitterer. Man spürte, wie sehr der Schicksals­schlag des Selbstmord­es seiner Frau Hannelore im Sommer 2001 ihn getroffen hatte und mehr noch der öffentlich­e Vorwurf, er habe sie im Stich gelassen. Man sah dann, wie die neue Liebe zu der viel jüngeren Maike Richter ihn kurz wieder aufblühen ließ. Für die er sich mit seinen Söhnen überwarf. Und dann 2008 der Sturz, die Kopfverlet­zung, der Rollstuhl. Die letzten Schlagzeil­en machte er mit bösen Bemerkunge­n über Merkel und mit seiner Klage gegen die journalist­ischen „Verräter“, die seine Tiraden unautorisi­ert veröffentl­icht hatten.

2000, als sein „Tagebuch“erschien, war das Jahr der CDU-Spendenaff­äre. Kohl hatte 1,5 bis zwei Millionen DM anonym entgegen genommen – und er weigerte sich, die Namen der Spender zu nennen. Weil er ihnen sein Ehrenwort gegeben habe. Merkel, die zuletzt immer wieder seine Nähe suchte, war damals die erste, die sich von Kohl lossagte, mit einem Zeitungsbe­itrag. „Die Partei muss laufen lernen, auch ohne ihr altes Schlachtro­ss.“Es war der Beginn ihrer Karriere als CDU-Chefin und später Kanzlerin. Kohl nahm es ungerührt hin und verzichtet­e auf den CDU-Ehrenvorsi­tz. Den Schaden der Partei bezahlte er. Sieben Million Euro brachte eine von ihm initiierte Spendenakt­ion auf. Aber die Namen nannte er trotzdem nicht.

 ?? FOTO: DPA ?? Altkanzler Helmut Kohl zusammen mit Maike Kohl-Richter, seiner zweiten Ehefrau, an seinem 80. Geburtstag. In den letzten Jahren wandte sich der Altkanzler nur noch selten an die Öffentlich­keit.
FOTO: DPA Altkanzler Helmut Kohl zusammen mit Maike Kohl-Richter, seiner zweiten Ehefrau, an seinem 80. Geburtstag. In den letzten Jahren wandte sich der Altkanzler nur noch selten an die Öffentlich­keit.

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