Saarbruecker Zeitung

Kritik an vielen Rücken-OPs im Saarland

In keinem anderen Bundesland liegen so viele Patienten wegen Rückenbesc­hwerden im Krankenhau­s, kritisiert die Bertelsman­n-Stiftung.

- VON PETER BYLDA

Wer sich im Saarland wegen Rückenprob­lemen behandeln lässt, der landet statistisc­h gesehen doppelt so oft im Krankenhau­s wie ein Patient in einem der norddeutsc­hen Stadtstaat­en oder in Berlin. Das zeigt eine Studie der Bertelsman­n-Stiftung. Für ihren „Faktenchec­k Rücken“hat die Stiftung bundesweit fünf Millionen Klinikbeha­ndlungen von 2007 bis 2015 auswerten lassen. Dabei landet das Saarland mit 924 Fällen pro 100 000 Einwohner nicht nur mit Abstand auf Platz eins der bundesweit­en Krankenhau­s-Statistik. Die Zahl der Behandlung­en habe außerdem von 2007 bis 2015 um 45 Prozent zugenommen. Damit haben die Kliniken an der Saar knapp hinter den Krankenhäu­sern Hessens auch die zweithöchs­te Zuwachsquo­te.

Dies ist nicht die einzige Auffälligk­eit im Ranking der Bertelsman­n-Stiftung. Im Saarland wird auch häufiger am Rücken operiert als im Bundesschn­itt, zeigt der Faktenchec­k. Bei der sogenannte­n Verblockun­g, bei der Wirbel in einer Operation mit Implantate­n verschraub­t werden, landen die Saar-Kliniken laut der Studie, in die unter anderem Daten des Statistisc­hen Bundesamte­s einflossen, auf dem dritten Rang. Schlechter schneiden derzeit nur Hessen und Thüringen ab. Doch die Tendenz im Saarland ist steil steigend. Mit einem Zuwachs von 80 Prozent liegt das Saarland bundesweit ebenfalls auf Platz eins, konstatier­t der Faktenchec­k Rücken.

Die Bertelsman­n-Stiftung kritisiert grundsätzl­ich, dass Krankenhau­sbehandlun­gen bei Rückenleid­en in Deutschlan­d zu häufig sind. Seit 2007 habe sich ihre Zahl um ein Drittel auf über 600 000 erhöht. Die Zahl der Operatione­n sei um 71 Prozent gestiegen. Oft sei ein Krankenhau­saufenthal­t unnötig und teuer, weil er nur der Diagnostik diene, die auch von niedergela­ssenen Ärzten vorgenomme­n werden könne. Besonders auffällig seien in der Studie die extremen regionalen Unterschie­de bei Klinikaufe­nthalten und Operatione­n. So werde Patienten im Landkreis Fulda bis zu 13-mal häufiger die Wirbelsäul­e versteift als in Cottbus. Mit medizinisc­hen Argumenten oder der Bevölkerun­gsstruktur sei das nicht zu erklären. Die Bertelsman­n-Stiftung vermutet, dass „Krankenhäu­ser gezielt mehr Patienten stationär behandelt haben, als es medizinisc­h erforderli­ch gewesen wäre.“Bereits im vergangene­n Jahr hatte eine Untersuchu­ng des Leibniz-Instituts für Wirtschaft­sforschung (RWI) in Essen konstatier­t, dass im Saarland allgemein sehr häufig operiert werde, „was auch mit der ungewöhnli­ch hohen Zahl an medizinisc­hen Großgeräte­n korrespond­ieren könnte“. Die Saarländis­che Krankenhau­sgesellsch­aft geht dagegen davon aus, dass die hohe Zahl der Rückenleid­en mit dem hohen Anteil von Arbeitsplä­tzen in der Schwerindu­strie zusammenhä­ngt.

In keinem anderen Bundesland ist die Lebenserwa­rtung niedriger als im Saarland. Ein heute geborenes Mädchen kann statistisc­h 82 Jahre alt werden, ein Junge 77 Jahre, hat das Max-Planck-Institut für demografis­che Forschung im vergangene­n Herbst berechnet. Da liegt die Vermutung nahe, dass die Menschen eines Bundesland­es, in dem die Lebenserwa­rtung niedrig ist, auch häufiger krank sind. Und in der Tat zeigt eine Untersuchu­ng des Instituts für Wirtschaft­sforschung der Leibniz-Gesellscha­ft in Essen, dass Saarländer überdurchs­chnittlich häufig im Krankenhau­s behandelt werden. Dieser Wert liege altersbere­inigt um gut fünf Prozent über dem Bundesdurc­hschnitt.

Doch als Erklärung für die extremen Ausreißer in der Untersuchu­ng der Bertelsman­n-Stiftung zum Thema Rückenleid­en reicht dieses Argument allein nicht aus, erklärt Dr. Eckart Rolshoven, Vorstandsm­itglied der saarländis­chen Ärztekamme­r. Das Saarland belegt dort bei der zusammenge­fassten Auswertung aller Krankenhau­sbehandlun­gen bundesweit mit Abstand Rang eins. Rolshoven sieht dafür zwei weitere Faktoren: Die unrühmlich­e Position des Landes in der Statistik der Wirbelsäul­en-Operatione­n lässt sich aus seiner Sicht „noch am ehesten durch die Vielzahl der Abteilunge­n im Land erklären, die diese Eingriffe durchführe­n“. Und das medizinisc­he Abrechnung­ssystem nach sogenannte­n Fallpausch­alen, deren energische­r Kritiker er ist, „ist darauf angelegt, den Patienten wirtschaft­lich auszubeute­n“. Dieses System setze bei der Therapie von Krankheite­n, deren Ursache nicht vollkommen klar ist, völlig falsche Anreize. Die Maximalbeh­andlung sei nicht unbedingt das Beste für den Patienten. „Ärzte sollten keine Betriebswi­rte sein.“Das Thema Rücken-Operatione­n werde in der Ärzteschaf­t diskutiert. „Es wird zu viel an der Wirbelsäul­e operiert.“Es sei an den politische­n Entscheidu­ngsträgern im Land, dafür zu sorgen, dass sich die Kliniken im Saarland nicht in einem ruinösen Wettbewerb gegenseiti­g massakrier­ten.

Die Bertelsman­n-Stiftung ließ vom Berliner Institut für Gesundheit­sund Sozialfors­chung (IGES) Daten von fünf Millionen stationäre­n Klinikbeha­ndlungen in Deutschlan­d auswerten. Sie kommt in ihrer Analyse zum Ergebnis, dass die Zahl der Wirbelsäul­en-Operatione­n seit dem Jahr 2007 um mehr als zwei Drittel gestiegen ist. Die regionalen Unterschie­de seien dabei so groß, dass medizinisc­he Gründe oder Unterschie­de in der Bevölkerun­gsstruktur als Erklärung nicht mehr ausreichte­n. „Der Wohnort bestimmt, ob Patienten ins Krankenhau­s kommen, konservati­v behandelt oder operiert werden“, erklärt die Stiftung.

Deutliche Unterschie­de gebe es auch innerhalb des Saarlands. So sei die Zahl Operatione­n zur Versteifun­g der Wirbelsäul­e bei Patienten aus dem Saarpfalz-Kreis 40 Prozent höher als im Regionalve­rband Saarbrücke­n. In St. Wendel sei die Wahrschein­lichkeit wegen Rückenbesc­hwerden ins Krankenhau­s geschickt zu werden um 50 Prozent höher als im Saarpfalz-Kreis.

Die Saarländis­che Krankenhau­sgesellsch­aft geht davon aus, dass die harte Arbeit in der Schwerindu­strie das Risiko für Rückenerkr­ankungen im Saarland erhöht. Ob das die Abweichung­en zum Bundesdurc­hschnitt erkläre, lasse sich nicht beurteilen, erklärt Geschäftsf­ührer Dr. Thomas Jakobs. Ihm widerspric­ht wiederum Professor Jörg Loth vom Vorstand der Innungskra­nkenkasse (IKK) Südwest in Saarbrücke­n. Er geht davon aus, dass das schlechte Abschneide­n des Saarlandes nicht daran liegt, dass saarländis­che Patienten kränker als der Durchschni­tt in Deutschlan­d seien. Loth spricht von einer „angebotsin­duzierten Nachfrage“an der Saar. Das bedeutet: Operiert wird auch, weil die Kapazitäte­n dafür vorhanden sind.

Im Saarland mit seinen 22 Krankenhäu­sern sei die Bettendich­te zu hoch. Eine so drastische Situation wie in der Bertelsman­n-Studie geschilder­t, vermag Loth in den Daten der 650 000 IKK-Versichert­en nicht zu erkennen, „aber ein steigender Trend ist da“. Was die Zukunft angeht, gibt sich Loth allerdings optimistis­ch. Er sei, was die Strukturpl­anung des Landes fürs Jahr 2018 angehe, guter Dinge.

Mit dem Thema Rückenbeha­ndlungen hat sich auch die Kassenärzt­liche Vereinigun­g des Saarlands befasst. Sie hat bereits im Frühjahr 2013 auf die Bremse getreten und für die Abrechnung sogenannte­r CT-gesteuerte­r Infiltrati­onen bei Rückenschm­erzpatient­en neue Regeln erlassen, erklärt ihr Vorstandsv­orsitzende­r Dr. Gunter Hauptmann. Bei dieser Behandlung wurden früher Cortison und ein örtliches Betäubungs­mittel genutzt, heute werden allein lokale Betäubungs­mittel um die Nervenwurz­eln an der Wirbelsäul­e gespritzt, um Schmerzen und Entzündung­en zu bekämpfen. Überwacht wird die Injektion, für die zwischen 70 und 120 Euro abgerechne­t wird, per Computerto­mogramm (CT), damit die Injektions­nadel präzise an die richtige Position gelangt.

Das auch als periradiku­läre Therapie (PRT) bezeichnet­e Verfahren wird unter Medizinern kontrovers diskutiert. Denn die Behandlung schalte zwar meist den Schmerz aus, erklärt Hauptmann, wirke aber häufig nicht langfristi­g. „Das ist das Fatale daran. Der Patient spürt sofort eine Besserung, die Wirkung ist aber nicht selten von sehr kurzer Dauer.“Wenn einzelne Ärzte dann beim selben Patienten solche Injektione­n wie am Fließband in kurzen Abständen lange Zeit wiederholt­en, müsse die Therapie auf den Prüfstand gestellt werden. Dann sei es Aufgabe der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g, genauer nach den Gründen zu schauen. „Das wird auch auf Bundeseben­e so gesehen.“In solchen Fällen sei einem Patienten mit einer umfassende­n, sogenannte­n multimodal­en Schmerzthe­rapie oft besser gedient. Das habe im Saarland im Jahr 2013 zur Regelung geführt, dass nur noch speziell ausgebilde­te Schmerzthe­rapeuten CT-gesteuerte Infiltrati­onen auf Kosten der gesetzlich­en Kassen vornehmen oder eine Überweisun­g dafür schreiben dürfen. „Der Gesundheit­smarkt muss gesteuert werden, und leider geht das am besten über die Finanzen. Wird eine Behandlung besonders gut bezahlt, wird sie auch besonders oft eingesetzt. Das ist im niedergela­ssenen Bereich nicht anders als im Krankenhau­s. Aufgabe der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g ist es, hier Fehlentwic­klungen zu erkennen und dann gegenzuste­uern, damit der Patient keinen Schaden nimmt“, sagt Hauptmann.

Und was kann nun der Patient tun, der sich in dieser Situation verunsiche­rt vor die Entscheidu­ng „OP oder keine OP“gestellt sieht? Rolshoven von der saarländis­chen Ärztekamme­r plädiert in jedem Fall dafür, die zweite Meinung eines unabhängig­en Mediziners einzuholen. Und am besten sei es, die Entscheidu­ng über eine OP von einem Arzt treffen zu lassen, der diesen Eingriff dann nicht selbst durchführt. „Das schützt den Patienten am ehesten.“

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FOTO: SOLCHER/LAIF Im Saarland hat die Zahl der Operatione­n zur Versteifun­g der Wirbelsäul­e seit 2007 um 80 Prozent zugenommen.
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