Der Tag, vor dem es eigentlich allen graust, ist gekommen In Brüssel beginnen heute die Verhandlungen über den britischen EU-Austritt. Vor den Brexit-Akteuren liegen zähe Debatten und zig offene Fragen.
Jean-Claude Juncker brachte es mit seinem Gespür für Bonmots auf den Punkt: „Ich halte den Brexit nach wie vor für eine Tragödie. Ich habe mehr Spaß am Heiraten als am Scheiden.“Doch weder der EU noch der britischen Regierung bleibt eine andere Wahl: Eine deutliche Mehrheit der Insulaner hatte am 28. März 2016 Ja zu einem Austritt aus der EU gesagt. Am heutigen Montag beginnen die Verhandlungen. Und niemand weiß, wohin sie führen.
Dabei hat sich die Stimmung gedreht. Unmittelbar nach dem Referendum auf der Insel gab sich die Europäische Union erst geschockt, dann entschlossen und jetzt wieder zurückhaltend weicher. Wenn das Vereinigte Königreich wolle, könne es in der Gemeinschaft bleiben, meinte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, als die britische Premierministerin Theresa May vor wenigen Tagen in Paris zu Gast war. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte schon vorher von „offenen Türen“gesprochen, sollten die Briten ihre Meinung ändern wollen.
Aber die vertragliche Wirklichkeit kennt keine Spielräume: Als May am 29. März dieses Jahres den Austrittsantrag in Brüssel abgeben ließ, wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der nicht mehr aufzuhalten ist. Noch weiß niemand, ob die Scheidung einvernehmlich oder „schmutzig“wird. Aber selbst den Experten graut vor den zigtausenden Fragen, die in den nächsten eineinhalb Jahren gelöst werden müssen. Es geht nicht nur um große Themen wie das Aufenthaltsrecht der EU-Bürger auf der Insel oder der ausgewanderten Briten auf dem Kontinent. Zur Debatte stehen auch penible Kleinigkeiten. Beispiele: Die EU betreibt in aller Welt gemeinsame Botschaften, die allen Mitgliedstaaten gehören. Muss Brüssel den Briten jetzt ihren Anteil an den Gebäuden abkaufen? Oder: Werden die britischen Telefonanbieter nach dem Brexit wieder die erst vor wenigen Tagen abgeschafften Roamingzuschläge einführen? Dürfen EU-Studenten auch künftig noch im Rahmen des Erasmus-Austauschprogramms im Vereinigten Königreich lernen? Kurz vor der ersten Verhandlungsrunde ist weder in Brüssel noch in London klar, wie viele Fachbeamte eigentlich nötig sind, um diese unendlich erscheinende Flut von Details zu klären – von den personellen Kapazitäten, die für lange gebunden sein werden, ganz zu schweigen. Der Brexit sei ein „Weg, den niemand kennt“, sagte vor wenigen Tagen ein hochrangiges Mitglied der EU-Kommission.
Dass die Materie der Scheidung Londons von Brüssel nicht nur kompliziert ist, sondern teilweise auch nur an höchster Stelle entschieden werden kann, bekommen die Staats- und Regierungschefs der Union bereits in der kommenden Woche zu spüren. Auf der Tagesordnung des dann stattfindenden Gipfelreffens steht nämlich die Frage, wohin zwei wichtige EU-Behörden umziehen sollen, wenn sie die Insel verlassen müssen. Da ist zum einen die Agentur für Arzneimittelsicherheit, ein fast 1000 Mitarbeiter umfassendes Haus mit weiteren zigtausend Agenturen im Umfeld und über 26 000 Besuchern pro Jahr – auf dessen Ansiedlung unter anderem das Saarland gehofft hatte. Und auch die deutlich kleinere Bankenaufsicht wird von London auf das Festland umgesiedelt. Beides ist nicht einfach, weil es viele Bewerber-Städte und -Regionen gibt. Und nun sollen Merkel, Macron und Co. diskutieren, welcher Standort gute Fluganbindungen und Hotelkapazitäten hat und ob die Infrastruktur und das kulturelle und Freizeit-Angebot für hochrangige Fachleute attraktiv genug ist, damit diese Experten nicht verlorengehen. Europa beginnt gerade, sich neu zu sortieren.