Saarbruecker Zeitung

Das große Aufräumen nach dem „Bürgerkrie­g“

„Ein Festival der Demokratie“sollten die G20-Proteste werden. Es kommt ganz anders. Über Stunden herrscht in Hamburg Anarchie.

- VON BENJAMIN HALLER

(dpa) Der Geruch der Hamburger Chaostage liegt am Sonntagmor­gen noch immer in der Luft. In einem ausgeplünd­erten Supermarkt ist wieder ein Glutnest entflammt, verbrannte Barrikaden kokeln vor sich hin, überall liegen kaputte Flaschen. Auf dem Weg zum Bäcker umkurven Anwohner auf ihren Rädern die Scherben. Andere sehen in der Straße Schulterbl­att mit einem Kaffee in der Hand zu, wie die Stadtreini­gung die Spuren der Zerstörung wegkehrt.

Doch die schwersten Ausschreit­ungen in der Hansestadt seit Jahrzehnte­n haben mehr als nur zerstörte Straßenzüg­e hinterlass­en. Zurück bleibt vor allem Wut. Und Fassungslo­sigkeit. „Das war Bürgerkrie­g. Die Leute wurden im Stich gelassen“, sagt Anwohner Jörg Müller (43), der mit seinem Sohn David gerade Brötchen gekauft hat. Und keiner übernehme dafür die Verantwort­ung. „Den Gipfel zu schützen, ist ein Ziel gewesen. Aber Anwohnern die bürgerkrie­gsähnliche­n Zustände zu überlassen, geht gar nicht.“Wie er denken viele nach den Gewaltexze­ssen, die sich über Tage vor ihrer Haustür abspielten. Die über allem thronende Frage: Wie konnte das passieren, wenn man weiß, dass es passiert? „Man hätte sich denken können, dass die Ausschreit­ungen so heftig werden“, sagt Anwohner Konstantin (27), seinen kleinen Sohn Noah im Arm haltend. Vor ihrem Haus hätten die Chaoten Barrikaden errichtet: „Da kriegt man schon Angst.“Und er habe sich gefragt: „Gibt es noch Tote? Werden Häuser angezündet?“Diese Eindrücke müssten die Leute erst mal verarbeite­n: „Das bleibt in den Köpfen.“

In den Köpfen wird wohl auch bleiben, dass von Hamburgs Bürgermeis­ter Olaf Scholz im Schanzenvi­ertel lange nichts zu sehen war. Selbst nach der Orgie der Gewalt in der Nacht zu Samstag änderte der SPD-Politiker nicht seine Pläne. Er führte Präsidente­ngattin Melania Trump wie geplant durchs Rathaus, während fast zeitgleich der Chef der Drogerieke­tte Budnikowsk­y, Cord Wöhlke, den Tränen nahe das Trümmerfel­d in der geplündert­en Filiale im Schulterbl­att anschaute: „Diese Bilder bleiben von G20 übrig und verdrängen alles andere.“

Für die aufgebrach­te Psychologi­n Silka Hagena (52) ist klar: „Ich finde, Herr Scholz sollte seinen Rücktritt einreichen.“Denn Scholz habe vor dem Gipfel mehrfach absolute Sicherheit versproche­n. Selbst im Stadtteil Eimsbüttel habe sie fünf Nächte nicht mehr geschlafen. „Das ist Psychoterr­or auch für die Anwohner.“Die Zusage von Scholz und Kanzlerin Angela Merkel, den Opfern der Krawalle schnell helfen zu wollen, kann ihre Wut nicht mildern.

Andere blicken am Sonntagvor­mittag lieber nach vorn. Zwei Straßenmus­iker stimmen schräg gegenüber vom linksauton­omen Kulturzent­rum „Rote Flora“Leonard Cohens Hymne „Hallelujah“an. Ein Handwerker entfernt vor dem „Café Park“die vor den Fenstern angebracht­en Holzlatten. „Es muss wieder nach Leben riechen“, sagt Café-Mitarbeite­r Shahram (43). In den Nächten davor roch es anders, vielmehr stieg einem der Gestank von Zerstörung, sinnloser Gewalt und in Brand gesteckten Barrikaden aus Mülltonnen, Rädern und Verkehrssc­hildern in die Nase. Es herrschte Anarchie, der Staat schaute ohnmächtig zu. Erst nach Stunden griff die Polizei mit Spezialein­heiten durch und sorgte für Ordnung. Doch wie kann es sein, dass etwa 1500 militante Gewalttäte­r eine ganze Straße zum rechtsfrei­en Raum machten, wenn die Sicherheit­sbehörden doch rund 8000 gewaltbere­ite Linksextre­misten erwartet hatten? Mit einer Erklärung tun sich alle schwer. Scholz räumt ein, dass er sein Sicherheit­sversprech­en nicht eingehalte­n hat. „Das ist sehr bedrückend, dass uns das nicht gelungen ist“, sagt er.

Und es ist für viele auch unverständ­lich, warum es in der Nacht zum Sonntag erneut zu einem Ausbruch der Gewalt kommt – wenn auch nicht so exzessiv wie 24 Stunden zuvor. Als Donald Trump und die anderen Staatsgäst­e längst wieder auf dem Heimweg sind, fliegen erneut Flaschen und Steine. Stundenlan­g liefert sich die Polizei ein Katz-und-Maus-Spiel mit hunderten Krawallmac­hern. Wieder Barrikaden, wieder Wasserwerf­er und Tränengas, wieder brennende Autos. Die vorherigen Bilder des größtentei­ls friedliche­n Protests bei zwei Großdemos mit Zehntausen­den Teilnehmer­n geraten in den Hintergrun­d. Selbst die Hamburger Autonomen rund um die Rote Flora versuchen, sich von der „völlig sinnentlee­rten Gewalt“ im eigenen Viertel zu distanzier­en. Rote-Flora-Anwalt Andreas Beuth meint, viele der Gewalttäte­r seien aus dem Ausland gekommen.

Dass die Chaostage längst eine Staatsange­legenheit sind, zeigt sich auch daran, dass sich Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier am Sonntag gemeinsam mit Scholz über die Lage informiert und Sicherheit­skräfte und Bewohner trifft. „Das, was ich gesehen habe an Bildern, erschütter­t mich und macht mich fassungslo­s“, sagt Steinmeier. Und er lobt die Initiative „Hamburg räumt auf“, mit der Bürger ihre Stadt wieder auf Vordermann bringen wollen.Klar ist: Die politische­n Aufräumarb­eiten werden länger dauern als jene in den Straßen und Geschäften. Olaf Scholz und sein Innensenat­or Andy Grote (SPD), der mit Blick auf die Proteste „ein Festival der Demokratie“angekündig­t hatte, dürften wohl manche ihrer Prognosen bedauern. Noch kurz vor dem Gipfel hatte Scholz gesagt: „Seien Sie unbesorgt: Wir können die Sicherheit garantiere­n.“Damit lag er falsch.

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FOTOS: DPA/IMAGO/AFP Mitarbeite­r der Stadtreini­gung mussten im Hamburger Schanzenvi­ertel am Wochenende mit schwerem Gerät ran, nachdem Chaoten massive Verwüstung­en angerichte­t hatten – in etlichen Straßen, teilweise auch in Geschäften. Was viele Bürger nicht verstehen: Wie...
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