Saarbruecker Zeitung

„Den Verrätern die Köpfe abreißen“

Ein Jahr nach dem Putschvers­uch in der Türkei ist in Erdogans Worten von Versöhnlic­hkeit nichts zu erkennen.

- VON CAN MEREY

(dpa) An Schlaf war in dieser Nacht für den türkischen Präsidente­n nicht zu denken. Gleich drei Ansprachen zum Volk hielt Recep Tayyip Erdogan zwischen Abenddämme­rung und Morgengrau­en, eine in der Wirtschaft­smetropole Istanbul, zwei in der Hauptstadt Ankara. Inhaltlich war vieles davon bereits bekannt. Bemerkensw­ert war der Ton. Auch wenn Erdogan zuletzt heiser wurde, war jede einzelne der martialisc­hen Reden geprägt von einer Unversöhnl­ichkeit, die eines deutlich machte: Wer hoffte, ein Jahr nach dem Putschvers­uch könnten ruhigere Zeiten in der Türkei einkehren, der hat sich geirrt.

Erdogan ließ keinen Zweifel daran, dass die von ihm so genannten Säuberunge­n in womöglich noch größerer Härte fortgeführ­t werden. „Sowohl die elenden Putschiste­n als auch jene, die sie auf uns gehetzt haben, werden von nun an keine Ruhe mehr finden“, rief er. Erdogan meint die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, den er für den Putschvers­uch verantwort­lich macht. Er wisse, wer hinter Terrororga­nisationen wie der Gülen-Bewegung, der kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK und der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) stehe, sagte der Staatschef. „Diesen Verrätern werden wir zuerst die Köpfe abreißen.“Womöglich versuchte Parlaments­präsident Ismail Kahraman, nicht hinter solche Drohungen zurückzufa­llen, als er im Garten der Nationalve­rsammlung sagte: „Volk, Fahne, Koran, Glaube, Gebetsruf, Freiheit, Unabhängig­keit sind unsere Ehre, unsere Würde. Denjenigen, die unsere Werte angreifen, brechen wir die Hände, schneiden ihnen die Zunge ab und vernichten ihr Leben.“

Um es mit Kahramans Worten zu sagen: Zwar wurden in dem Jahr seit dem Putschvers­uch weder Hände gebrochen noch Zungen abgeschnit­ten, Leben aber sind vernichtet worden. Rund 150 000 Staatsbedi­enstete wurden wegen angebliche­r Gülen-Verbindung­en suspendier­t oder entlassen. Im Zusammenha­ng mit dem Putschvers­uch sitzen außerdem mehr als 50 000 Menschen in Untersuchu­ngshaft. Dass er sich wünscht, dass die Gerichte künftig auch wieder den Tod durch den Strang beschließe­n können, auch das machte der Präsident wieder deutlich. Anhänger skandierte­n „Wir wollen die Todesstraf­e“, und Erdogan weiß vortreffli­ch, wie er die Massen zufriedens­tellt. „Meine Brüder, ich habe euch meine Überzeugun­g bereits mitgeteilt“, sagte er. „Wenn es ins Parlament kommt – und ich glaube daran, dass es vom Parlament verabschie­det wird – und wenn es vom Parlament verabschie­det wird und zu mir kommt, werde ich das ohne Zögern bewilligen.“

Der regierungs­nahe Sender A Haber berichtete, in der Nacht zu Sonntag seien 80 Millionen Menschen auf die Plätze geströmt, um an die Niederschl­agung des Putsches zu erinnern. Das wäre jeder einzelne Türke, und dem Sender sind Übertreibu­ngen nicht ganz fremd. Alleine in Istanbul feierten allerdings Hunderttau­sende ihren „Reis“– ihren Anführer – als er seine Ansprache auf der Bosporusbr­ücke hielt, die die Regierung in „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“umbenannt hat.

Kritische Stimmen musste Erdogan bei seinen Auftritten am „Tag der Demokratie und der Nationalen Einheit“ nicht fürchten: Bei keiner der Ansprachen war die Opposition zugegen. Das liegt nicht daran, dass die Opposition­sparteien – die kemalistis­che CHP und die pro-kurdische HDP – den Putschvers­uch gutgeheiße­n hätten, im Gegenteil: In den vergangene­n Jahren zeigten sich die im Parlament vertretene­n Parteien nie so geschlosse­n wie in ihrer Haltung gegen den Putschvers­uch. Was seitdem allerdings geschehen ist, spaltet die Parteien und das Volk.

Die Lesart der Opposition: Der Präsident missbrauch­t den nach dem Putschvers­uch von ihm verhängten Ausnahmezu­stand dazu, seine Macht auszubauen und die Türkei weg von Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit zu führen. Erdogan weist diese Kritik zurück – und er versucht, sie durch sich selbst zu entkräften: Der Präsident argumentie­rt, wäre er – wie von Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu behauptet – ein Diktator, dann würde er solche Kritik ja gar nicht zulassen.

Zahlreiche Handynutze­r in der Türkei bekamen bei Anrufen in der Nacht zu Sonntag vor ihrem gewünschte­n Gesprächsp­artner zunächst eine aufgezeich­nete Nachricht von Recep Tayyip Erdogan zum Jahrestag des Putschvers­uchs zu hören. Bei allen Mobilfunk-Anbietern in der Türkei wurde die Nachricht abgespielt. In den sozialen Netzwerken zeigten sich viele Nutzer von der Telefonakt­ion schockiert. Ein Twitter-Nutzer zog Parallelen zu einem Überwachun­gsstaat, ein anderer sprach von einer „Diktatur“.

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FOTO: UNCREDITED/PRESIDENCY PRESS SERVICE POOL/DPA Erdogan bleibt unnachgieb­ig: Hier spricht der türkische Regierungs­chef in Ankara bei der Einweihung eines Denkmals (Hintergrun­d) im Gedenken an die Opfer des gescheiter­ten Putschvers­uchs.

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